Rotauge

 
Irgendwo, in einem Angelbuch oder in einer Fischereizeitschrift, hatte ich gelesen, Rotaugenangeln, das sei Angelalltag und das Rotauge eben nur der Alltagsfisch des Anglers. Nun ist wohl sicher richtig, dass rutilus rutilus zur häufigsten, ja wirklich fast  täglichen Beute des Friedfischanglers gehört, es deshalb aber zum Gewöhnlichen oder gar Langweiligen zu zählen, das möchte ich dann aber doch mit Entschiedenheit von mir weisen. dass es auch ganz anders sein kann, zumindest im Winter, wenn aufgrund der erschwerten Begleitumstände dieser Jahreszeit jeder Fang doppelt schwer zu werten ist, davon möchte ich jetzt berichten.

Ein solcher Winterangeltag auf Rotaugen beginnt für mich immer schon am Abend vorher zu Hause und noch in der Wärme. Bedächtig wird im gemütlich geheizten Angelkeller die Ausrüstung dafür zusammengestellt. Hinzu kommen der dicke Parka und die mit Lammfell gefütterten Fäustlinge. Nach aussage des Wetterberichtes soll es morgen 10 Grad unter Null werden. Der Transportbehälter gesellt sich den übrigen Angelutensilien hinzu. Er soll auf der Hinfahrt die Thermosflasche mit der heißen Suppe, den Kanten Schwarzbrot und die gute Luftgetrocknete aufnehmen und auf der Heimfahrt mit Wasser und möglichst vielen Schuppenträgern für unseren Teich gefüllt sein. - Prüfend gleitet mein Blick über die ausgebreiteten Ausrüstungsgegenstände. Fehlt noch was? - Natürlich, beinahe hätte ich fast das Wichtigste vergessen: die im Kühlen stehende Madendose! Am besten stelle ich sie gleich in das kalte Auto, was ihre Insassen vor einem frühzeitigen Verpuppen und mich vor einer bösen Überraschung am Morgen bewahren wird. Nun noch schnell die warmen Anziehsachen herausgelegt und dann zu Bett! Der Wecker braucht jetzt im Winter ja nicht extra gestellt zu werden. Vor 8 Uhr wird es ja doch nicht hell.

Punkt 7.00 starte ich mein beladenes Gefährt und steuere es in Richtung Angelplatz am Main. Eine knappe Stunde Fahrzeit liegt vor mir. Die Straße ist trocken, schnee-und eisfrei, frei auch weitgehend von Verkehr. Das heißt, auf meiner rechten Seite nur. Auf der Linken kommt mir im Dunkeln die schier endlose paarige Scheinwerferreihe derer entgegen, die heute am Montag auf dem Weg zu einem neuen Arbeitstag sind, während ich einem freien Angeltag entgegenfahre. Das Gefühl der Freude, des Glücks und einer unbändigen Freiheit überkommt mich, gestärkt von dem Bewusstsein, diesen Tag auch redlich verdient zu haben nach dem anstrengenden Wochenende,an dem die anderen frei und die Möglichkeit hatten, ihre Freiheit sinnvoll zu nutzen. Ob sie, die jetzt an mir vorüberfahren, es wohl getan haben?!

Doch genug Davon! Meine Fahrt führt mich aus dem Industrieballungszentrum hinaus gen Osten, dem langsam immer heller werdenden Horizont und dem geliebten Main zu. Orangefarbenes Licht kündigt den Sonnenaufgang an. Ich halte genau darauf zu. Die noch schneebedeckten Höhenzüge des Spessarts, vor denen mein Fluss liegt, sind im fahlen Morgenlicht bereits auszumachen. Bei der nächsten Ausfahrt muss ich die Autobahn verlassen. Kurz darauf werde ich schon am gegenüber liegenden Ufer meinen Angelplatz erkennen können. Eine kribbelnde Spannung erfasst mich. Wir d der fängige Platz dort, wo der warme Auslauf des Klärwerks die Strömungsverhältnisse im Flusslauf verändert, auch frei sein?! Gespannt spähe ich hinüber und atme erleichtert auf: weder Auto noch Angler ist dort zu entdecken. Jetzt schnell die restlichen Kilometer des Wegs zurückgelegt: durch das alte Städtchen, über die schmale Brücke zur Abzweigung von der Hauptstrasse, den holprig gefrorenen Feldweg entlang - und schon bin ich da!

Meine Ankunft treibt etwa gut 100 Blässhühner und Stockenten in die Flucht, die hier auf Nahrungssuche waren. Beim entladen des Angelgeschirrs merke ich, dass es gar nicht so kalt ist, wie ich angenommen hatte. Nur knapp unter Null dürfte es sein und, was noch schöner ist, es weht kein Wind.

Etwa eine Viertelstunde später beschreibt meine leuchtend orange gefärbt e Posenspitze im heller werdenden Licht des anbrechenden Tages, von turbulenten Auslaufstrudeln hin und her getrieben, zum ersten Malihren Weg bis hin zu den ruhigeren Zonen im Fluss, wo sie dann, beständig aufrecht stehend, dorthin treibt, wo am ehesten Bisse zu erwarten sind. Gemächlich driftet sie mit der Strömung ab, zunächst noch durch nichts in ihrer Bahn beeinträchtigt. Natürlich kenne ich die Strecke mittlerweile genau und habe den Abstand zwischen Haken und Pose entsprechend eingestellt. Die Kälte ist gut erträglich. Bald sind die Handschuhe abgelegt. Doch halt, was war das eben?! Der Schwimmer ist dort draußen abgetaucht. Aber noch bevor ich den Anhieb setzen kann, taucht er wieder auf. Doch ein Hänger?! Um sicher zu gehen, kurbele ich ein. Da, zwei Maden fehlen, die restlichen sind langgezogen. Also doch ein Biss! Ich weiss nicht, soll ich mich nun ärgern, weil ich den Anschlag verpasst habe, oder soll ich mich darüber freuen, dass es heute aller Witterung zum Trotz dennoch beisst?! Ich entscheide mich für Letzteres, und habe bald darauf - wie zur Belohnung - den nächsten Biss. Kraftvoll kämpft nach diesmal rechtzeitig geführtem Anhieb ein gutes Rotauge am dünnen Vorfach. Es ist größer und schwerer als die vielen, die mir im Frühjahr und Sommer an den Haken gingen: ein richtiges Winterrotauge eben!
Die Federwaage wird später bei genau einem halben Pfund stehen bleiben. Schnell ist der Fisch abgeködert und im Setzkescher untergebracht. Freude durchrieselt mich. Also war es doch nicht umsonst gewesen,das Vorbereiten, das Aufstehen und Hinausfahren, wo so mancher mir entgegengehalten hatte: „Was wollen Sie? Angeln gehen? bei diesem Wetter?!“ - Allein schon durch diesen einen Erfolg hat der heutige Angeltag seine volle Berechtigung erhalten und seine Kritiker widerlegt.

Mitten in meine dankbaren Überlegungen hinein höre ich auf einmal ein Auto langsam den vereisten Weg am Fluss entlang fahren und dicht hinter mir halten. Es ist ein anderer Angler, den ich vor Tagen schon einmal hier angetroffen habe. Ich weiss, er hat es auf einen Hecht abgesehen. Nach einem mürrisch gemurmelten Gruß packt er sein Gerät aus,stellt sich neben mich und schickt einen kleinen Köderfisch an der Posenangel just auf dieselbe Reise, die meine Friedfischpose nun schon seit gut einer Stunde unternimmt. Natürlich fühle ich mich dadurch gestört, lasse es aber schweigend geschehen. Geduldig höre ich mir auch seineständigen Nörgeleien an dem seit Tagen schlechten Beißverhalten der Hechte hier an. es klingt so, als ob sie die Schuld an seinem Misserfolg trügen. Eine solche Begleitung beim Angeln hatte ich mir für heute ja nicht gerade gewünscht! Glücklicherweise merkt er aber dann doch selbst, dass seine Raubfischangel meinen Friedfischversuchen im Wege ist, und platziert sie und sich ein Stück weiter flussab und versucht sein Glück dort. Aber schon kurz darauf kommt er schimpfend zurückgestapft, weil er seinen Blinker im Strom an einem Hindernis verhängt und dann abgerissen hat, und holt sich maulend einen neuen. Erleichtert sehe ich ihn wieder davon marschieren.

Nun gut, auch ich habe seit dem letzten Biss nicht unbedingt Grund zum Jubeln, denn all meine Bemühungen haben mir in der Zwischenzeit auch keine Beute mehr eingebracht. „Beißpause!“, fährt es mir durch den Sinn, die Erinnerung an Suppe, Brot und Hartwurst weckend. Da ich zudem Schiffe den Strom hinunter kommen sehe, deren starke Wellenbildung ein Weiterangeln sowieso unmöglich machen, entschließe ich mich zu einer Essenspause. Neu gestärkt und aufgewärmt setze ich meine anglerischen Bemühungen fort. Die Wasseroberfläche ist vom Schifffahrtsverkehr noch immer unruhig. Leichte Kabbelwellen reflektieren flimmernd das Licht und lassen den Schwimmer unkontrolliert auf und nieder gehen, so dass sein Weg äußerst schwer zu verfolgen ist. Aber trotz des Wirrwarrs von Wellenlinien und Lichtreflexionen erkenne ich das plötzliche, abrupte zügige Abtauchen meines Schwimmers, das ich sofort mit einem entschlossenen Anhieb pariere. Sogleich fühle ich prächtigen Widerstand. Schwer spannt und dehnt sich die Schnur. Etwas will bohrend und schlagend weg von Haken und Vorfach. Die federnde Rute tut ihre Pflicht und überwindet mit im Zusammenspiel mit Rolle und Schnur dieses kräftige Widerstreben. Als der Fisch näher kommt, greife ich instinktiv zum Kescher, denn ich weiss längst, dass ich es hier nicht mit einem Rotauge zu tun habe. Einer der scheuen Döbel ist es, den ich schließlich über den Kescherrand führen kann. Zwar ist er mit 38 cm Länge und etwa 600 g Gewicht bei weitem kein Kapitaler, aber dennoch eine weitere Bestätigung meiner Absicht, an solch einem Wintertag erfolgreich angeln zu gehen. Und darüber hinaus: eine Riesenfreude kann es auch dann geben, wenn es sich auch einmal nicht um einen Riesenfisch handelt.

Kaum habe ich den „Dickkopf“ dem Rotauge im Hälterungsnetz zugesellt, als auch schon mein unzufriedener Hechtangler abermals zurückkehrt und sich bei mir darüber beschwert, dass ein weiterer Hänger ihm statt des ersehnten Hechtes lediglich einen aufgebogenen Drilling beschert hat. Außerdem sei heute sowieso ein solches „Mistwetter“, bei dem man besser daheim geblieben wäre. Ein Blick zu dem immer strahlender werdenden Himmel zeigt mir als dem heute schon vollauf zufriedenen Friedfischangler dagegen gerade das Gegenteil. Bald wird sogar die Sonne die letzten Nebelschleier überwunden haben! - Hinter mir wird es wieder ruhiger. Der Herr „Kollege“ ist mit einem neu angebundenen  Drillingshaken wieder auf Hechtjagd gezogen. Hoffentlich hat er diesmal mehr Glück, damit das ewige Gemecker aufhört.

Das Wetter wird schöner. Sonnenschein spiegelt sich auf der nun wieder glatten Wasserfläche. Meine Schwimmerspitze ist nun immer deutlicher zu erkennen. Trotzdem folgen auch bei mir keine Bisse mehr. Leichtes Eistreiben herrscht auf dem  Fluss, und es gibt immer ein knirschendes und scharrendes Geräusch, wenn zwei Eisplatten in einem Strudel an oder übereinander geraten. Jedes mal schaue ich erschrocken in die Richtung, aus der das unerwartete Knirschen kommt. Doch plötzlich vernimmt mein Ohr andere, bekanntere Töne:mit dem hellen „tiet, tiet“, das ich hier schon so oft gehört habe, kündigt sich das Nahen eines Eisvogels an. Wo ist er? - Da, links von mir dicht am Ufer und knapp über der Wasseroberfläche kommt er heran geschwirrt - direkt auf mich zu! Ich bleibe wie erstarrt stehen. Dennoch bemerkt er mich und schert etwa 10 m vor mir zur Flussmitte hin aus, passiert in gleichem Abstand meinen Standort, so dass ich in aller Ruhe und Deutlichkeit sein blaublitzendes Gefieder, die rostbraune Unterseite,das helle Band zum Nacken hin und den langen spitzen Fischfängerschnabel bewundern kann, kehrt dann zum Ufer zurück und verschwindet schließlich im entfernten Busch- und Schilfbestand. Kurz hinter ihm folgt ein zweiter, wird aber von mir als dem Überraschten durch meine erneuten Bewegungen bis hin zum anderen Flussufer abgedrängt. Deutlich kann ich seinen Schwirrflug  bis zum Gehölz der anderen Flussseite verfolgen. Nur einige Minuten später werde ich rechts von mir starker Wellenbewegung gewahr. Sollte hier ein starker Fisch rauben?! Gespannt schaue ich hin! Aber nein, ein Zwergtaucher erscheint einige Meter von dem Platz entfernt, an dem er die erste Wellenbewegung verursacht hat . Als er mich in so kurzer Distanz erblickt, taucht der kleine braungraue Kobold schnell wieder ab.

Bei all dem, was ich heute an diesem kalten Dezembertag schon erlebt und gesehen habe, stellt sich mir plötzlich die Frage: War das nun Angelalltag oder für einen echten Petri-Jünger doch eher ein Festtag?! - Mit zwei guten Fischen im Kescher trotz Winter und Kälte und den herrlichen Naturbeobachtungen, die mir zuteil wurden, liegt die Antwort auf diese Frage auf der Hand. Was will ich denn noch mehr?! Während langsam ein diesem Tag entsprechendes Gefühl der Dankbarkeit und Zufriedenheit in mir aufsteigt, kommt mein „Angelkollege“ mit Äußerungen zurück, die keinen Zweifel daran lassen, dass er keinen Angelfesttag erlebt hat. Mürrisch und übellaunig packt er zusammen, meint, ich solle ruhig weiter meine „Heringe“ fangen und setzt sich dann endlich in seinen Wagen, um diesem für ihn so unerspriesslichen Angeltag endgültig „Adieu!“ zu sagen. Ich höre ihn davonfahren, und das große Bedürfnis nach endlicher Ruhe am geliebten Fischwasser überkommt mich. Ich bin wieder allein in der Natur und denke: Er hat nichts begriffen und nichts, überhaupt nichts, gesehen - nicht die Eisvögel, nicht den Zwergtaucher, nicht das Rotkehlchen, das im nahen Geäst gesessen. Er wollte sich einen Festtag erzwingen, wollte unter allen Umständen einen mehrpfündigen Hecht erbeuten, war enttäuscht, dass es nicht gelungen war, und begab sich gerade so der Erfahrung des Besonderen an diesem Tag.
Zufrieden denke ich ans Aufhören für heute. Nur noch einmal will ich den Köder abtreiben lassen. Der Schwimmer zieht noch einmal seine Bahn. Da hält ihn irgendetwas an und zieht ihn nach unten. Sicher ein Hänger! Trotzdem Anschlag! Und nein, das darf doch nicht wahr sein - wieder ein strammes Gegengewicht! Noch ein Döbel? Doch nein, das wäre heute wohl auch zu viel verlangt.

Ein strammes Rotauge ist es, 30 cm lang und gute 350 g schwer. Noch einmal tritt sicherheitshalber der Kescher in Aktion, und dann betrachte ich mir meinen Fang einmal aus der Nähe: den Kopf mit den rötlich umrandeten Augen, die smaragdgrüne Nackenpartie, der gewölbte, marineblau schimmernde Rücken, die silbernen Flanken, eingefasst von hellrot leuchtenden Brust-, Rücken-, Bauch- und Afterflossen. Lediglich die geteilte Schwanzflosse geht leicht ins Schwärzliche. Und mein Fazit über das Rotauge lautet: wenn es also schon ein Alltagsfisch sein sollte, dann aber einer im Festtagsgewand.


Schleie

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