Schleie

 

Mit der Schleie verbinden sich für mich viele Kindheitserinnerungen. Gegen Ende des letzten Krieges geboren, war ich zu Beginn der 50 er Jahre ein Knirps von gerade mal 5-6 Jahren, der mit seinen Spielkameraden anfing, die heimatlichen Feld- und Waldfluren zu durchstreifen. Hier kannten wir uns aus, wussten, wo die ersten Schlüsselblumen blühten und wo man für den Muttertag Maiglöckchen im Wald holen konnte, wussten, wie viele Rehe im Revier standen, welcher Fuchsbau befahren war,in welchen Baumkronen Bussard und Habicht ihre Horste hatten und welches die Schlafbäume der Fasanen waren. So mancher Igel musste sein angestammtes Reich verlassen, weil er von uns - allen Flöhen zu Trotz - in einem ausgezogenen Pullover behutsam nach Hause transportiert und im Garten ausgesetzt wurde. Den Zauneidechsen vom Bahndamm erging es nicht viel besser. Besonders gern fingen wir aber die Teich- und Bergmolche in den mittlerweile bewachsenen und mit Wassergefüllten „Bombenlöchern“ aus dem letzten Weltkrieg.

In diese Zeit hinein fallen meine ersten Erlebnisse mit Schleien. Durch unser Städtchen hindurch floss - und fliesst auch heute noch - ein Bach, offiziell eigentlich der„Hengstbach“, für uns aber immer nur „die Bach“., von unserer Wohnung nur etwa 30 - 40 m entfernt. Damals noch völlig naturbelassen und kaum verschmutzt maß sein sandig-steiniges Bett oft nur eine Handbreit an Tiefe. Algen wuchsen darauf. Zuckmückenlarven, in unserem Bubenjargon „Glühwürmchen“ genannt, gediehen prächtig auf seinen Schlammbänken, und im Sommer entstiegen ihm ganze Wolken von Schnaken. In jedem Frühling aber gelangten Schleien aus dem Teich einer am Stadtrand gelegenen ehemaligen Mühle - sei es durch Hochwasser bedingt oder dadurch, dass dort das Wehr geöffnet wurde - in den Bach und so auch in die Strecke nahe unserer Wohngegend. Da lagen sie dann oft, zappelnd und schlagend in viel zu flachem Wasser und versuchten angestrengt, wieder größere Wassertiefen zu erreichen und mit der geringen Strömung fortzuschwimmen. Ihre klatschenden Versuche konnten uns natürlich nicht verborgen bleiben, trieb sich doch mindestens einer von uns ständig an „de Bach“ herum. Kaum war ihre Ankunft von solch einem Späher gemeldet, rannten wir auch schon mit Eimern bewaffnet zur Schleienjagd. Trotz der oft noch kühlen Witterung barfuß im Wasser stehend, grapschten wir nach den gehandicapten Schwimmern, und es war nicht nur eine Frage des Geschicks sondern auch des Mutes, wie oft sie uns dabei aus den Händen glitschten, denn nicht jeder getraute sich, bei den schleimigen Gesellen beherzt zuzufassen.

Waren dann alle Fische einer solchen „Sendung“ mit viel Hallo und Geschrei gefangen und in den gefüllten Wassereimern untergebracht, ging es unter Triumphgeheul nach Hause. Dort setzten wir sie in die großen Zinkwannen aus der Waschküche unserer Mütter und freuten uns an ihren Schwimmkünsten -bis es uns dann zu langweilig wurde, weiter zuzusehen. Alsdann setzte jedes mal die große Ratlosigkeit darüber ein, was nun weiter mit ihnen geschehen sollte, die ebenfalls jedes mal damit endete, dass wir die für unsere bescheidenen Aquarien und Bonbongläser, in denen gelegentlich Molche, Laubfrösche oder Stichlinge hausten, viel zu großen Fische wieder in die Eimer verfrachteten und sie in einen kleinen vor dem Schwimmbad gelegenen Teich umsetzten. Wenn sie dort im flachen Wasser ihrer neu gewonnenen Freiheit zuschossen, hatten wir unseren Spaß gehabt, und die Sache war für uns erledigt. Keiner von uns und auch von den Erwachsenen wäre damals auf den Gedanken gekommen, dass diese ja bis gut einpfündigen Fische zu schlachten und zu essen, obwohl dies schon zu einer nicht unwesentlichen Bereicherung unseres damals nicht gerade üppigen Speisezettels, auf dem Fisch selten und Fleisch noch seltener stand, hätte beitragen können. Aber wenn es bei uns Fisch gab, dann war das Kabeljau, manchmal auch Goldbarsch oder Hering in der einen und anderen Form. Dass man Süsswasserfische überhaupt essen konnte, das war bei uns weder bekannt noch üblich. Dass außerdem gerade diese grüngelben schleimigen Schleien „aus de Bach“ ein äußerst zartes und wohlschmeckendes Fleisch haben, das hätte sich niemand bei uns auch nur träumen lassen.

Aufgrund dieser frühen Erlebnisse war mir die Schleie von Kindheit an vertraut, wenn ich sie auch wie so vieles, über das man zu leicht und zu selbstverständlich verfügt, nicht besonders hoch- und wertschätzte. Als ich deshalb gut 20 Jahre später bei meinem allerersten angelzag an jenem Forellensee meinen ersten Fisch fing, war ich weder überrascht noch sonderlich erfreut, dass es sich dabei um eine Schleie handelte. Viel mehr als diese mir damals alltäglich und etwas gewöhnlich vorkommende Beute entzückte mich bei ihrem Fang, wie zum ersten Male Leben in ein von mir ausgeworfenes Angelgerät kam: das plötzliche Zittern der grün-weiß und rot lackierten Pose, ihr Zucken und mehrmaliges Untergehen und Wiederauftauchen, ihr schließlich endgültiges Fortbleiben und die dann nach dem Anschlag eintretende Spannung in Rute und Schnur. Ich hätte damals viel lieber Forellen gefangen, galten sie doch als viel edler und als etwas Besonderes. Wie wenig edel und vornehm sich diese in Zuchtbecken gezogenen und an Fütterungen gewöhnten „Teichlachse“ auf alles Fressbare stürzen, das man ins Wasser wirft, und wie relativ leicht sie deshalb an den Haken gehen, das wusste ich zu dieser Zeit noch ebenso wenig, wie ich auch noch keine Ahnung davon hatte, wie viel mehr stattdessen dazugehört, die heimliche und scheue tinca tinca zu überlisten. Im Laufe der Zeit, als die Zahl der gefangenen Regenbogenforellen die der Schleien  bei weitem überstieg, nahm meine Achtung vor den Grüngoldenen dann etwas zu. Aber noch fing ich sie recht häufig sowohl am Kiessee als auch an unserem Teich, und ganz ordentliche Exemplare waren darunter.
Aber erst am völlig natürlichen Gewässer habe ich die Schleien und ihren Fang richtig schätzen gelernt. Den Schauplatz dazu lieferte wieder einmal mehr der nach der Stadt Waging benannte See.
Man schrieb den 5. Juli 1977. Es war jener Tag, an dem ich zum ersten Mal in „meiner“ Bucht geangelt hatte. Obwohl erst gegen 8.30 Uhr brannte die Sonne schon ganz schön heiß auf das klare Wasser, das mir fast bis an den Rand der hohen Watstiefel reichte. Eigentlich war ich längst mit dem Erfolg der hinter mir liegenden Angelstunden zufrieden und dachte bereits intensiver an den Duft von heißem Kaffee und frischen Brötchen als an die Fischerei, als draußen im tiefblauen Wasser vor der Scharkante die rote Schwimmerspitze durch mehrmaliges Nicken den Biss des wohl nächsten Rotauges ankündigte. Nun, dieses eine wollte ich noch mitnehmen und dann aufhören und zusammenpacken. Die Pose hatte sich mittlerweile leicht schräg gelegt und wanderte zügig auf die ersten Teichrosenblätter zu. Ich hieb an und - saß fest! So schiene es jedenfalls. Die kräftige Rutenspitze bog sich zum Halbkreis, und ich fühlte plötzlich, wie ein kraftvoller Fisch in der Tiefe kämpfte. „Das muss aber ein ganz schöner Brocken von Brachse sein!“, dachte ich und versuchte, den heftig Widerstrebenden an die Oberfläche zu pumpen. Es dauerte eine geraume Weile, bis es gelang. Aber wer beschreibt mein Erstaunen, als dort vor mir nicht die bronzefarbige Breitseite einer großen Brachse sondern der gedrungene, dunkelolivgrüne Rücken einer prächtigen Schleie auftauchte, wie ich bisher noch keinen gesehen hatte! Durch Anheben der Rute und Einkurbeln der Schnur holte ich die vom harten Drill schon leicht Erschöpfte näher heran und schaute mich nach meinem Kescher um. Der lag auch brav mit dem Netzteil auf dem Uferrand, während sein Stiel zu mir hin über das Wasser ragte - allerdings etwa zwei Schritte zu weit  von mir entfernt. Un die Entfernung leichter zu überbrücken, ging ich in die Hocke und streckte meine Linke nach dem begehrten Landegrät aus. Dabei vergaß ich, dass ich ja schon tief im Wasser gestanden hatte, so dass das kühle Nass mir nun von oben in die Watstiefel lief und zugleich meinen Hosenboden durchtränkte. Bevor ich den Kescherstiel fassen konnte, erwachte der bis dahin ruhig gebliebene Fisch durch die in der Schnur entstandene neue Spannung zu neuer Aktivität und schlug sich mit einem einzigen kräftigen Schlag seines breiten Schwanzruders vom Haken ab. Einen Moment lang verharrte er noch wie benommen an Ort und Stelle und schoss dann vehement davon. Unterhalb der Gürtellinie nass, den jetzt nutzlosen Kescher in der Hand, stand ich mit offenem Mund da und starrte der bereits müde Geglaubten nach, bis sie in der blaugrauen Tiefe verschwunden war. Was für ein Fisch war mir da im letzten Augenblick noch durch die Lappen gegangen! Kopfschüttelnd wollte ich mich abwenden, da erschien die vom Drill doch etwas Mitgenommene noch einmal an der Oberfläche - weit genug entfernt, um sie zu erreichen, jedoch nah genug, um sie noch einmal zu bewundern! Deutlich konnte ich die tief dunkelgrüne Färbung ihres klein gemusterten Schuppenkleides, die fast schwarzen Flossen und , als sie sich dann mit einem weiteren kräftigen Schwanzschlag endgültig von mir verabschiedete, ihre zitronengelbe Unterseite sehen. Welch eine Pracht! Solch intensive Farben wiesen die Schleien bei uns zu Hause nicht auf, und es ist fast unnötig zu erwähnen, dass das Feuer meiner Jagdleidenschaft für sie hell lodernd entfacht war.

Schon am nächsten Morgen war ich wieder zur Stelle.  Der ersehnte Schleienbiss blieb jedoch aus und erfolgte auch in den nächsten Tagen nicht. er kam stattdessen am vorletzten Urlaubstag, überraschend und wiederum ergebnislos! Wie so oft, wenn man mit zwei Ruten gleichzeitig angelt, hatte ich natürlich gerade die falsche in der Hand, als an der anderen schnarrend Schnur abgezogen wurde. Bis ich die Richtige dann in Händen hielt, hatte auch das Knarren der Rolle aufgehört, und Fisch und Schnur saßen unlösbar im unterseeischen Pflanzendschungel fest. Das lose Ende meiner schließlich abgerissenen Angelsehne erinnerte mich eindrücklich daran, dass Schleienangeln in einem natürlichen Gewässer halt doch etwas anderes ist als Forellenfischen im kommerziellen Baggersee.

Mitte August des darauf folgenden Jahres war es dann wieder soweit, dass ich meine Schleienbemühungen dort fortsetzen konnte, wo ich sie so unglücklich beendet hatte. Drei Tage hindurch hatte ich gut angefüttert und auch schon eine stattliche Anzahl von Rotaugen, Rotfedern und Brachsen gefangen. Wiederholt war mir dabei das Aufsteigen sektperlenähnlicher Bläschen aufgefallen, die in dieser Form nur von Fischen der Gattung tinca tinca verursacht werden. An den Haken war mir noch keine gegangen, aber ich hatte ja noch 2 1/2 Wochen Urlaub vor mir und war guter Dinge, zumal die Weißfische weiter in schöner Regelmäßigkeit bissen.

Wieder einmal wollte ich einen ihre Bisse mit einem schnellen Anhieb quittieren, als meine Rute danach bis zum Wasserspiegel  hinunter gekrümmt und von etwas Schwerem in dieser Stellung festgehalten wurde. Der unterseeische Zug war so stark, dass ich zunächst auf den Biss eines mittleren Karpfens tippte. Allerdings unternahm mein unsichtbarer Kontrahent keinen der für Karpfen typischen Fluchtversuche, sondern ruderte, dabei kräftig nach unten stossend, im Kreis herum. Durch vorsichtiges Pumpen konnte ich ihn in höhere Gewässerschichten bringen, was mir auch gelang, ohne ihn jedoch dabei zu Gesicht zu bekommen. Lediglich die Tatsache, dass ich ein Stück Schnur zurückgewann, sowie ein kräftiger Schwall an der Oberfläche zeugten vom Gelingen meines Drillmanövers, wobei letzteres mich wieder an einen Karpfen denken ließ. Doch dann zeigte sich auf meinen weiter anhaltenden Zug hin der Umriss einer großen Schleie im klaren Oberflächenwasser. Deutlich waren die wulstigen Lippen und das kleine rot umrandete Auge der olivgrünen Gestalt zu erkennen. Große Freude durchrieselte mich. Aber mit der Freude zog auch die Angst und das Zittern in mir ein. Die Erinnerung an die letztjährigen Misserfolge überkam mich. Würde es mir diesmal gelingen, Sieger zu bleiben?! - Einen Augenblick lang verhoffte der Fisch in ruhiger Haltung. Dann wand er sich um und strebte mit Macht nach links auf das nächste Pflanzendickicht zu, um sich dort hineinzuretten. Nur mit Mühe konnte ich ihn davon abbringen, was allerdings zur Folge hatte, dass er nun nach rechts unter die Planken des alten Bootssteges zu flüchten versuchte. Auch das durfte ich nicht zulassen, da ich ihn sonst unweigerlich verloren hätte. Also dirigierte ich den langsam in seiner Kraft Erlahmenden in Richtung Kescher, der anders als im Vorjahr dieses Mal griffbereit neben mir an einem Rutenhalter lehnte. Als die goldschimmernde Flanke des Gehakten über den untergetauchten Kescherrand glitt, und die Beute dann sicher im Keschersack ruhte, ließ ich hörbar Luft ab. Petrus sei Dank! - Es war geglückt!
Erst jetzt merkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte -eine Folge der großen Anspannung! An ein Weiterangeln war jetzt nicht mehr zu denken. Eine solch herrliche Beute musste selbstverständlich sogleich den Zuhausegebliebenen gezeigt werden. In fiebernder Eile bereitete ich die Heimfahrt vor, schenkte aus Freude über den endlich errungenen Erfolg allen anderen gehälterten Schuppenträgern die Freiheit wieder und fuhr mit stolz geschwellter Brust unserem Urlaubsdomizil zu. Dort angekommen, erwartete mich eine leichte Ernüchterung, denn die Hausgäste - mit Ausnahme meiner Frau und der Kinder, die aus Erfahrung wissen, dass sie dem Vater besondere Anteilnahme entgegenbringen müssen, wenn er „so“ heimkommt - sahen sich beim Anblick dieses herrlich dunkelgrün und goldgelb prangenden Tinca-Exemplars höchstens zu Äußerungen wie: „Hm, ein Fisch!“ oder „ganz schön!“ veranlasst und konnten gar nicht begreifen, was mich an so einem gerade mal 42 cm langen und nur 1130 g schweren Fisch denn derart aus dem Häuschen brachte. - Nun ja, es waren halt keine Angler, und außerdem hätte ich selbst vor einigen Jahren noch wohl nicht anders reagiert. 

                                                    Ende


                                                        Angelgeschichten