Karpfen III

 
Mehrere Tage
hintereinander hatte ich an derselben Stelle größere Ballen von eingeweichtem Brot und gekochten Kartoffeln ins Wasser geworfen, und saß wieder einmal mit noch halb vollem Futtereimer am Teich. Dieses Mal aber hatte ich das Futtergemisch wohl nicht richtig durchgeknetet, denn es blieb nicht alles am Grund liegen. Teile davon, darunter zwei große Brotflocken,  trieben an der Oberfläche von der Anfütterungsstelle zum Ufer hin. Allerdings erreichten sie dieses nicht, denn auf einmal begann der Wasserspiegel um sie herum zu schwanken, und ein blau-gelber Schatten, nur schemenhaft unter Wasser zu erkennen, stieg nach ihnen auf. Ein rundes, dicklippiges Fischmaul durchbrach die Wasseroberfläche und saugte schmatzend zuerst den einen und gleich darauf den zweiten Brotbrocken ein. Starke Wellenbewegung hinterlassend, verschwand der Spuk wieder. - Was war geschehen? - Nun, ganz einfach: ein guter Spiegelkarpfen hatte sich das auf dem Wasser treibende verlockende Angebot nicht entgehen lassen! Natürlich, so fiel mir ein, waren unsere Vertreter der Gattung cyprinus carpio längst an schwimmendes Brot gewöhnt. Viele Spaziergänger fütterten ja bei ihren Ruhepausen am Teich die stets hungrigen Wildenten mit von zu Hause mitgebrachtem trockenen Brot, dessen Reste  sicherlich von unseren Geschuppten auch nicht verschmäht wurden. Bestand darin vielleicht die Chance für eine neue Angelmethode und Fangmöglichkeit?!° -Um diese Frage sofort zu beantworten, entfernte ich Schwimmer, Blei und Wirbel von der bereits fertig montierten Stipprute, band an deren Hauptschnur direkt einen 6 er Haken an und befestigte an diesem ein stattliches Brotstück aus dem Futtereimer. Sachte ließ ich es neben mir ins Uferwasser gleiten und wartete. Eine gute Weile tat sich zunächst gar nichts. Aber dann war es plötzlich wieder da: das von einem schweren Fischkörper verursachte Schwanken des Wasserspiegels, das zügige blaugelbe Herangleiten darunter, das schmatzende Zufassen und das schnell wieder Abtauchen danach. Nur dieses Mal hatte die Sache ja einen Haken, nämlich meinen 6 er. Die Schnur schnellte von der Wasserfläche, sowohl durch das Abziehen des Fisches als auch durch meinen rasch gesetzten Anschlag bewirkt, und - riss mit einem trockenen Knall. Mit Stärke 22 war sie ja auch viel zu schwach für solch plötzliche eine Kraftentfaltung gewesen, und eine stärkere im Moment gerade nicht greifbar.

Eine leichte Enttäuschung überwindend und im Stillen darauf hoffend, dass der von mir „Angeschlagene“ den Haken bald wieder los werden würde, begann ich mich der Gewissheit zu freuen, durch die zufällig beim Anfüttern gemachte Beobachtung eine für mich neue Angelmethode entdeckt zu haben. Natürlich musste mein Gerät noch darauf abgestimmt werden.

Zu Hause las ich dann zuerst auch einmal all das nach, was bereits über die Schwimmbrotangelei veröffentlicht worden war. Als Resümee dieser Literaturbefragung ging ich beim Karpfenfischen künftig wie folgt vor: direkt an die Hauptschnur einer kräftigen, nicht allzu langen Teleskoprute wand ich einen 4 er Haken, schnitt aus dem Boden eines möglichst ofenfrischen Kastenweißbrotes Würfel von etwa 3 - 4 cm Kantenlänge, köderte am liebsten einen der vier Eckquader durch die Kruste hindurch an und warf ihn nach kurzem Anfeuchten im Wasser, um ihn schwerer zu machen, an die vorgefütterte Stelle aus.

Mit dieser Oberflächenfischerei hatte ich binnen eines einzigen Sommers bald mehr Karpfenerfolge zu verzeichnen als in Jahren zuvor mit anderen Angelmethoden. 4 - 7 Pfünder gingen mir reihenweise an die Angel.

Allerdings waren dafür einige Voraussetzungen unverzichtbar. Hervorragend geeignet waren die frühen Morgen- und die späten Abendstunden eines windstillen,  recht heißen aber nicht zu schwülen Tages. Möglichst unauffällig und ohne große Bodenerschütterungen hervorzurufen, musste das Gerät an einen Angelplatz mit guter Deckung gebracht werden. Der Angler selbst durfte, nachdem er sich gesetzt und den Brotwürfel an Haken und Schnur vorsichtig durch das Gewirr der Zweige und Blätter hindurch manövriert und sachte kaum einen halben Meter vom Gewässerrand entfernt auf das Wasser hinabgelassen hatte, sich nur noch dazu bewegen, ein oder zwei harmlose, hakenfreie Brotbrocken gleichen Formats dem ersten zuzugesellen, um so das angeborene Misstrauen der Karpfen zu zerstreuen. Sodann durfte er sich kaum noch rühren, musste starr und stur allen Unbequemlichkeiten, Blutstauungen, Verkrampfungen und Insektenstichen zu Trotz ruhig sitzen bleiben, wollte er auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg bewahren. Sein Blick hatte dabei unentwegt auf dem unter seinen harmlosen Kollegen schwimmenden Köderbrocken zu haften. Denn, wenn auch mit einer gewissen Anlaufphase beim Beißen der großen Karpfen zu rechnen war, so konnte man doch niemals davor sicher sein, dass die friedliche Stille der kleinen Wasserwelt vor einem nicht doch plötzlich durch das überraschende Zustoßen eines entschlossenen Karpfens in ein fast chaotisches Durcheinander verwandelt wurde.

Meist aber kommt es anders: die Brotwürfel, unter ihnen der hakenträchtige, werden nach kurzer Verweildauer im nassen Element zunächst von Fischbrut und Jungfischen von unten her angestoßen.  Deutlich sieht man ihre kleinen Leiber sich als schwärzliche dicke oder dünnere Striche gegen den ockerfarbenen Gewässeruntergrund abheben. Immer wieder stoßen sie die für sie ja überdimensional großen Futterquader an und bringen diese dabei zum Tanzen und hin und her Schaukeln. Aber plötzlich stieben sie alle wie auf Kommando davon. Irgendetwas, nein, sicher das Nahen eines größeren Fisches hat sie vertrieben. Wenn dann das Wasser noch leicht zu schwanken beginnt, kann man sicher sein, dass ein besserer Karpfen im Anmarsch ist. Nicht immer sieht man auch den blaugrauen Kopf und Rücken, der sich langsam auf den Köder zu schiebt. Das plötzliche Wegspritzen der Kleinfische ist aber jedes Mal ein sicheres Anzeichen dafür, dass ein Größerer, Majestätischerer naht. Ob dieser dann aber auch den für ihn bestimmten Köder nimmt oder nur die daneben liegenden ungefährlichen, das kann niemand im Voraus sagen.  Oft scheint es, als ob sie gerade die hakenbeschwerten Köder genau kennten und deshalb als einzige verschmähten, was einen Angler schon ein wenig zur Verzweiflung treiben kann.

Aber trotz allem, trotz der Unbequemlichkeit, trotz des langen, oft erfolglosen Ausharrens in bisweilen quälender Position und trotz der Ungewissheit, die mit dieser Methode verbunden ist, halte ich jene Art von Angelei, das Fischen auf Sicht, für das Spannendste und Nervenaufreibendste, das es in diesem Sport gibt.

„Kommt ein Karpfen oder nicht? - Ist es ein Großer oder nur ein Kleiner? - Beißt er oder beißt er nicht? - Und wenn er beißt, wird die Schnur halten, werde ich ihn am Abziehen ins unterseeische Geäst und Wurzelwerk hindern können, wird mir schließlich seine Landung glücken?“ - das sind die Fragen, die mich bei solch einem Ansitz bewegen, der vielleicht rein äußerlich völlig ruhig, ja langweilig anzusehen ist, bei dem ich in meinem Inneren aber aufs höchste angespannt bin.

Und wenn dann wirklich alles gestimmt, wenn Fisch und Gerät die Erwartungen erfüllt und der Anhieb gesessen hat, -  wer beschreibt die Explosion, die dann im Wasser vor einem stattfindet: das Singen der Schnur, die bereitwillige Verbeugung der so stark geglaubten Rute, die kurzen aber kraftvollen Fluchten des Gehakten, die Angst des Anglers, er könnte sich am unerbittlich festgehaltenen Gerät doch noch, das Wasser an der Oberfläche peitschend, abschlagen?!  - Eine äußerst faszinierende Art der Angelei mit relativeinfacher aber umso erfolgreicherer Methode.

Allerdings, je öfter ich sie, dazu am selben Ort unter dem schützenden Weidenbusch, anwandte, desto öfter hatte ich nur noch kleinere Karpfen am Haken, während die größeren nach geraumer Zeit höchstens noch zum Inspizieren der Brotköder in Ufernähe kamen. Irgendwie hatten sie Verdacht geschöpft an dem plötzlich so reichen Nahrungsangebot unter den lanzettförmigen Blättern des großen Weidenbusches und an der starken Beunruhigung, die dort zeitweilig entstand.

Karpfen über 5 Pfund fing ich an dieser Stelle jedenfalls nicht mehr.

Nun hatte ich aber des öfteren schon vor dem gegenüberliegenden Steilufer weit größere Karpfen im Nachmittagssonnenschein kurz unter der Oberfläche stehen sehen. Wegen der Abschüssigkeit der Böschung und des starken Baum- und Buschbestandes war dort eine Uferangelei nicht möglich. Also versuchte ich, meine Köder durch Weitwürfe dorthin zu befördern. Der erhoffte Erfolg jedoch blieb trotz frischester und schmackhaftester Weißbrotwürfel aus.

So verging der Sommer. Die Blätter an den Bäumen wechselten ihre Farben und kündigten den Herbst an. Morgens und abends war schon eine empfindliche Kühle in der Luft zu verspüren. „Ob die Karpfen jetzt wohl noch beißen?“ , dachte ich. Man schrieb bereits den 9. Oktober, und es war ziemlich frisch an diesem Morgen, an dem ich noch einen letzten Versuch auf Karpfen wagen wollte. Dichter Nebel lag schon über den Feldern und natürlich auch auf unserem Wasser. Bei solchem Wetter hatte ich noch nie auf Karpfen gefischt. Dazu war der am anderen Ufer liegende Standplatz der Großen durch die Nebelschwaden hindurch kaum zu sehen. Meine Karpfenambitionen konnte ich wohl für dieses Jahr abschreiben! dennoch machte ich die Rute klar und platzierte den mir am schmackhaftesten vorkommenden Brotwürfel vor dem Krautfeld der besagten Uferseite. Dort lag er, nachdem die Wellenringe, die sein Eintauchen verursacht hatten, verebbt waren, völlig ruhig da. Nichts ereignete sich. Langsam lichtete sich der Nebel und gab den Blick auf die gesamte Wasserfläche frei. Die Sonne brach durch, und es wurde wärmer. Es würde wohl zumindest vom Wetter her  ein schöner goldener Herbsttag werden. Ob er mir vielleicht doch noch Petri Heil bringen würde?!

Da - ganz plötzlich erschienen zwei blaugraue Schatten ganz in der Nähe meines Brotwürfels, ein großer und ein etwas kleinerer: Karpfen! Sofort nahm ich die Rute in die Hand. Im Nu waren alle meine Sinne hellwach.  Bis zum Äußersten gespannt erwartete ich, was geschehen würde. Fast im Zeitlupentempo schob sich der größere der beiden Schatten auf den Schwimmköder zu, blieb kurz davor stehen - und ließ sich ebenso langsam wieder absinken! Nur wenig später erschien wieder ein bläulicher Rücken vor dem Brot - welcher von ihnen es jetzt war, kann ich nicht sagen - , um ebenfalls nach kurzem Verweilen wieder zu verschwinden. Das war alles!  Nach meiner großen innerlichen Anspannung fühlte ich die Enttäuschung nun in allen Gliedern. Beinahe! Beinahe hätte einer der besseren Karpfen in unserem Teich  angebissen - und das zu einer Zeit, in der ich damit eigentlich gar nicht mehr gerechnet hätte. Beinahe - es war zu ärgerlich!

Aber mitten in meine kopfschüttelnde Resignation hinein hörte ich plötzlich ein leises Schmatzen, sah aufblickend den Wasserspiegel dort heftig schwanken, wo eben noch mein Brotköder gelegen hatte, und fühlte zugleich einen festen Zug in der noch immer in Händen gehaltenen Rute. Völlig unverhofft, wie so oft, hatte ein Karpfen den Köder schließlich doch genommen. Kräftig dagegen haltend, musste ich nun versuchen, ihm die Flucht zu seinem sicheren Versteck im Pflanzengewirr zu vereiteln. Es gelang mit Mühe und Kraft. Einen ganz kurzen Augenblick lang hatte ich dabei das Gefühl, er sei mir wieder vom haken abgekommen, aber dann war der Widerstand sogleich wieder fest und schön. Mein gegenüber zog nun, von seinem Bestreben, das Laichkrautdickicht zu erreichen, abgehalten, in umgekehrter Richtung am gegenüber liegenden Ufer entlang. Hierbei war er weder zu dirigieren noch aufzuhalten. Kaum konnte ich Einfluss auf ihn nehmen. Irgendetwas stimmte da nicht, war anders als bei sonstigen Karpfendrills. Nur mit großer Kraftanstrengung und im Vertrauen auf die Stärke der 40 er Schnur konnte ich ihn allmählich ermüden und schließlich ans Ufer ziehen, um ihn zu keschern. Dabei brach der Bügel des Unterfangnetzes, das durch die Tortur bei meinem großen Hechtfang schon arg in Mitleidenschaft gezogen worden war, ab. Herr cyprinus carpio von 63 cm Länge und 4625 g Gewicht hatte ihm den Rest gegeben. Mit beiden Händen in die Maschen greifend, trug ich, innerlich jubilierend, meine bisher größte Karpfenbeute stolz denselben Weg hinauf, den ich seinerzeit mit noch schwererem Hechtgewicht im Anhang zu bewältigen hatte.

Oben angekommen, wurde mir auch klar, weshalb sich der Drill des 9 1/4 Pfünders so schwierig und so rätselhaft gestaltet hatte: der Haken saß nämlich nicht im Maul, sondern, kaum lösbar, im Ansatz der linken Brustflosse! Aber wie war er dort hingekommen? Nun, Freund carpio hatte den Köder wohl, wie es sich gehört, von der Wasseroberfläche weggesaugt, dann aber sicherlich nach Verspüren des Zuges in der Angelschnur wieder ausgespuckt, und der Haken hatte sich darauf sofort wieder unabkömmlich im Flossenansatz festgesetzt. Das alles musste in jenem Augenblick geschehen sein, in dem ich kein Gewicht mehr an der Angel gespürt und deshalb geglaubt hatte, den Fisch verloren zu haben. Das Glück war demnach also auf meiner Seite gewesen.

Außen gehakte Fische gelten bekanntlich ja als unsportlich gefangene. Aber dieser hier war ja nicht einfach „gerissen“ worden, sondern hatte den Köder vorher schon ordnungsgemäß genommen, so dass ich mich wohl zu recht mit zusammen meiner Tochter über diesen Fang freuen durfte.














Rotauge                                               Angelgeschichten