Karpfen

 
Bei diesem Fisch gehen meine Gedanken zurück in die begeisterte Zeit meiner Angelanfänge. Außer einigen Forellen und Schleien am Baggersee hatte ich in diesen ersten Wochen auch schon drei oder vier kleine, schwärzlich gefärbte Schuppenkarpfen in unserem Offenthaler Teich gefangen. Und ausgerechnet der scheue und schlaue Karpfen sollte für die erste große Aufregung in meinem noch so jungen Anglerleben sorgen.

Es war Ende September, als ich - wie in den vorangegangenen Wochen schon oft - wieder einmal  an jenem Gewässer stand, um vielleicht den einen oder anderen Schuppenträger meinen bisher bescheidenen Fängen  hinzufügen zu können. Zwei mit Maden beköderte Angeln hatte ich ausgeworfen, die eine nach links ins Freiwasser, die andere vor das Laichkraut auf der rechten Uferseite. Aber zunächst blieb alles ruhig. Kein Fisch zeigte Interesse an den ausgeworfenen Madenbündeln. Langsam wurde das Tageslicht schwächer. Die Dämmerung brach herein. Ich beschloss aufzuhören und holte gerade die linke Angel ein, als ich im rechten Augenwinkel sah, wie die Pose vor dem Krautfeld zuerst leicht angehoben und dann zügig schräg nach unten gezogen wurde. Mit einem Aufschrei ließ ich die halb eingeholte Angel auf die Uferböschung fallen, eilte zu der anderen hinüber und hieb, weil an ihr mittlerweile heftig Schnur abgespult wurde, kräftig an. Es gab einen gewaltigen Ruck im Gerät, und ein stark sich wehrender Fisch peitschte dort vor den Laichkrautblättern mit einem breiten Schwanzruder das Wasser, so dass es weiß gegen den dunklen Hintergrund aufspritzte.

„Das muss ja eine ziemlich große Schleie sein!“, dachte ich damals, „So eine hatte ich noch nie an der Angel!“ - Die vermutete Schleie schoss nun auf das gegenüber liegende Krautbett zu. So viel wusste ich damals schon, dass man einen Fisch da hinein nicht kommen lassen durfte, und hielt kräftig dagegen. Zum Glück bestand mein damaliges Leihgerät aus einer stabilen Steckrute mit mindestens 40 er Schnur auf der Rolle. Es hielt jedenfalls diesen Gewaltakt aus. Der Fisch vor mir kämpfte unbeirrt weiter, versuchte auch immer wieder, diese oder jene Krautansammlung zu erreichen, wurde von mir aber ebenso unbeirrbar immer wieder daran gehindert. Mit der Zeit , ich weiss nicht mehr, nach wie vielen Minuten, wurde das, was da an der Angel hing, ein wenig ruhiger, so dass ich es schwer näher an mich heranziehen konnte. Auf der immer finsterer werdenden Wasseroberfläche tauchte plötzlich querliegend ein mächtiger weißer Bauch, der zu einem mir damals riesig vorkommenden Spiegelkarpfen gehörte. Heute schätze ich sein Gewicht mit gut um die 10 Pfund sicherlich realistisch ein. An jenem Spätsommerabend jedoch erschien er mir einfach überdimensional.

„Oh nein, dich wollte ich doch gar nicht!“, stieß ich entgeistert hervor. Ich hatte es doch eigentlich nur auf kleine Schleien abgesehen! Nichts desto weniger musste ich diesen Riesen keschern, was er aufgrund seines Abgekämpftseins relativ problemlos geschehen ließ. Flappend gingen seine Kiemendeckel, rhythmisch öffnete und schloss sich sein großes, rundes, vorgestülptes Maul, in dessen äußerster Ecke mein ziemlich großer Haken saß.

„Was tun mit diesem Koloss?“, durchfuhr es mich. Ich hatte zwar die Erlaubnis, hier ab und zu meine Angeln auswerfen zu dürfen, aber gab mir das auch die Berechtigung, solche Apparate heraus angeln und gar mitnehmen zu dürfen? - Ratlos schaute ich hinunter auf den noch immer nach Luft schnappenden Fisch. Zuerst einmal musste der wieder ins Wasser, das war klar! Aber wie, wenn man keinen Setzkescher besitzt? - Im Netz hielt ich ihn eine Weile unter Wasser, damit er er sich erholen und „durchatmen“ konnte. Dann kramte ich aus meinem Angelkasten einen Klüngel Kordel hervor und begann, den Unterfangkescher auf seiner offenen Seite systematisch zu verwahren, damit sein Insasse nicht daraus entweichen konnte. Als ich damit fertig war, was mit meinen fahrigen Fingern gar nicht so einfach war, hielt ich den Kescher mitsamt dem darin Gefangenen probeweise ins Wasser und, nachdem ich gesehen hatte, dass die Verknotung hielt, band ich das Ganze mit dem Rest der Schnur am Stamm der nächststehenden Weide fest und ließ Kescher und Fisch ins genügend tiefe Uferwasser gleiten.

Anschließend rannte ich - das gesamte Angelgerät, obwohl es nicht mir gehörte, einfach im Stich lassend - zum Auto, um schnellstens den Gewässerbesitzer aufzusuchen und ihn zu fragen, was mit dem Eingeschnürten geschehen sollte. Leider traf ich ihn zuhause nicht an, wohl aber den  Frührentner, der ihm als eine Art Gewässerwart diente. Mit ihm jagte ich, unterwegs das Vorgefallene berichtend, wieder dem Teich zu. Dort war glücklicherweise alles unverändert. Fisch und Gerät waren noch unversehrt und vollständig vorhanden. Schon während der Fahrt hatte mein Begleiter die Anweisung des Gewässerbesitzers an mich weitergegeben, wonach große Karpfen zu Laichzwecken wieder zurück gesetzt werden sollten. Natürlich war ich damit einverstanden und befreite den Gefangenen gerne. Im Scheinwerferlicht des Wagens betrachteten wir beide noch einmal ausgiebig den prachtvollen Gesellen mit seinen großen glänzenden Einzelschuppen. Dann setzten wir ihn zurück, wobei das seichte Uferwasser und sein großes Körpergewicht dem Karpfen etwas Schwierigkeit bereiteten, ins tiefe Wasser zurückzukehren. Mit beiden Händen drückte ich ihn in tiefere Fluten, und als er darin im Schein der Taschenlampe zu einem kräftigen Schwanzschlag ausholte und verschwand, war es wie eine Erlösung für uns beide. Er hatte seine Freiheit wieder, und ich war befreit von der Sorge, etwas Falsches getan zu haben. Dennoch bleibt mir dieser erste wirklich bemerkenswerte Karpfenfang als eines meiner schönsten und aufregendsten Abenteuer am Fischwasser in Erinnerung.

Im Sommer des darauf folgenden Jahres hatte ich dann des öfteren Gelegenheit, den Typus „cyprinus carpio“ an der Angel zu studieren. Ich angelte damals noch häufig an dem mit Forellen, Schleien, Aalen und Karpfen besetzten Baggersee, wo ich stets auch einen großen Tauwurm an der Grundangel weit draußen  im See  auslegte. Die Rute stand steil in ihrem Halter. Die Bremse war immer nur mäßig stark eingestellt, so dass sich im Falle eines Bisses der Fisch beim Abziehen der Schnur meist selbst hakte. Auf diese Art und Weise fing ich gelegentlich ganz gute Karpfen von drei bis sieben Pfund. Immer war es für mich ein erregendes Erlebnis, wenn plötzlich die Rolle zu Schnarren begann, weil draußen im See ein Karpfen den Köder genommen hatte.

Es war an einem schönen, strahlenden Sommertag anfangs Juli. Schon am frühen Morgen brannte die Sonne vom Himmel herab, und es versprach, sehr heiß zu werden. Mit der leichten Steckrute hatte ich bisher nur eine einzige Forelle erwischt. Den anderen war wohl die Hitze zu groß.

„Bei diesem Wetter müssten doch eigentlich die Karpfen beißen!“, dachte ich noch, da beugte sich meine steife Grundrute nach vorne. Das Schnarren meiner Rolle ertönte. „Na, wer sagt‘s denn?!“ -ein Karpfen bestätigte meine Überlegung. Das Schnarren der Rolle hielt erfreulicher weise weiter an, wurde gar um einen Ton schärfer, als ich die Rute in die Hand nahm um anzuschlagen. Aber von „anschlagen“ konnte gar keine Rede sein, denn die Gerte wurde mir fast aus der Hand gerissen, begleitet von dem immer zorniger werdenden Hornissengebrumme ihrer Rolle, so dass ich sie nur mit Mühe und dazu nur waagrecht über dem Wasser halten konnte. Was war das denn?! So etwas hatte ich noch bei keinem Karpfendrill erlebt! Hastig stellte ich die Bremse nach, konnte aber dadurch weiteres, gleichbleibend schnelles Abziehen der 45 er Schnur nicht verhindern. Schwer zog ein Fisch auch bei nun wieder steil erhobener Rute weiter in den See hinein. Plötzlich aber machte er kehrt, und ich gewann einige Meter Schnur auf die Rolle zurück. Ich verstärkte den Zug, konnte aber den Fisch dadurch nicht näher ans Ufer bringen. Einen Karpfen dieser Größe und Stärke hatte ich noch nie am Haken gehabt, das zumindest wusste ich jetzt sicher.  Erst durch Zurückweichen vom Ufer gelang es mir, ihn um einige Meter näher ans Land zu dirigieren. Dort zog er dann weiterhin seine 30 - 40 m langen Fluchten parallel zum Ufer hin und her.

Sämtliche Mitangler in meiner Umgebung mussten, um Schnurverhedderungen zu vermeiden, ihre Angeln einziehen. Bald bildete sich um mich herum ein großer Halbkreis interessierter, gute Ratschläge erteilender Zuschauer. So stand ich nun da: hinter mir die senkrecht ausgebaggerte Sandwand, die ein weiteres Zurückgehen verwehrte, rechts und links flankiert von teils nur harmlos neugiereigen bis hin zu offensichtlich missgönnenden “Kollegen“, vor mir das etwa 10 m entfernte offene Wasser, in das von meiner zu einem Flitzebogen gespannten Rute die bis zum Äußersten gestraffte Schnur lief. Was war das nur für ein Brocken?! Mit den mir bekannten 5 - 7 Pfündern hatte der wirklich nichts mehr gemein.

Gut 15 Minuten waren schon vergangen, und ich hatte noch nicht das geringste von ihm gesehen, zum Glück auch noch nicht den zu Recht so gefürchteten Karpfenschlag gespürt. Langsam wurde ich ratlos und unsicher. War er am Ende vielleicht gar nicht so groß, wie ich annahm? Hatte ich einfach nur die Bremse zu weich eingestellt? Was war los? Die wenig hilfreichen dafür umso missgünstigeren Kommentare, die ich mir von rechts und links anhören musste, wie: “Du hast ja die Bremse offen!“ - „So schwer, wie du tust, ist er auch wieder nicht!“ - steigerten meine Unsicherheit noch. Also zog ich die Bremse weiter an, aber nichts änderte sich. Die Schnur durchschnitt immer noch gleichmäßig von einer zur anderen Seite ziehend die Wasseroberfläche. Als sie einmal nur mit gut einem Meter Abstand zur Uferkante im Wasser verlief, wollte ich es endlich wissen. Zumindest wollte ich „ihn“ einmal sehen. Ein vernünftig und sachlich gebliebener Mitangler stand bereits mit seinen Stiefeln und untergetauchtem Kescher auf eine günstige Gelegenheit wartend neben mir im Wasser. Vielleicht konnte ich „ihn“ ja an die Oberfläche bewegen. Vielleicht konnte mein Nachbarn „ihn“ ja mit etwas Glück dabei keschern. Vielleicht?! -

Als die Schnur sich wieder einmal auf das Netz zu bewegte, drehte ich die Bremse völlig zu und setzte einen kräftigen Anschlag. Das Einzige, was ich damit erreichte, war, dass sich das schwere Gewicht an meiner Angel urplötzlich ins Nichts auflöste und mir Schnur, Blei, Wirbel und Haken in der Luft entgegen schossen. Ausgeschlitzt! Der 4 er Haken, der wohl nur knapp gesessen hatte, war durch den plötzlichen starken Ruck aus seiner Verankerung im oder am Fischmaul gerissen worden! ich konnte es zuerst gar nicht fassen! Konnte nicht fassen, dass ich diesen schweren Fisch verloren hatte - zumal durch meine eigene Schuld allein, durch Ungeduld und Dummheit! Hätte ich mich doch nicht um die Zuschauer und ihre Bemerkungen gekümmert! Hätte ich mich doch nicht verunsichern lassen! Hätte ich doch einfach so weitergemacht, wie ich es gewohnt war und den Fisch im ja hindernisfreien Wasser des Baggersees - wenn es hätte sein müssen - stundenlang gedrillt! Hätte ich den Drill, der ja das Schönste beim Angeln ist - einfach nur genossen! Hätte, hätte, hätte - ich hatte aber eben nicht!

Die Menge um mich herum zerstreute sich unter Äußerungen, die sowohl besserwisserische Missbilligung als auch schadenfrohe Genugtuung beinhalteten. Aber nicht diesen, sondern mir allein galt der Ärger, der langsam in mir hochstieg. Ich musste schmerzlich erkennen, dass Anfänger eben nicht nur Glück haben, sondern auch Lehrgeld bezahlen müssen.

Wie hoch und teuer dies in meinem Fall war, erfuhr ich einige Wochen später. Da wurde nämlich an derselben Stelle von einem ruhigen, bedächtigen älteren Angler ein Spiegelkarpfen von sage und schreibe 22 Pfund gefangen. - Ob das „mein“ Fisch war? - Vieles spricht dafür!


Karpfen II                                                                        Angelgeschichten