Hecht II

 

Am 2. Januar 1975, nach dem Stress der Feiertage und der Wochen davor, beschloss ich, an diesem Freitagnachmittag noch vor den bevorstehenden Urlaubstagen an unserem Teich bereits etwas Ruhe zu tanken. Für die anstehende Urlaubswoche befanden sich schon alle notwendigen Angelutensilien im Kofferraum meines Autos. Ich verabschiedete mich von meiner Frau noch mit den Worten, dass ich „ein wenig zum Teich fahren“, mich dazu aber „nicht großartig umziehen“   wolle,  weil ich „den Hecht heute ja sowieso nicht fangen“ würde. Also stieg ich, nachdem ich an einem Kiosk noch ein Päckchen Zwieback für die Köderteigzubereitung gekauft hatte, in meinen Wagen und steuerte unserem Teich zu.


Dort angekommen, setzte ich mich zuerst einmal auf die überdachte Bank des Holzstegs, der eine  der Buchten unseres  Gewässers abschließt, und sah mich um. Das Wasser lag bräunlich und völlig ruhig vor mir. Der wolkenverhangene Himmel spiegelte sich grau darin. Die Erlen und Weiden reckten ihre kahlen Äste und Zweige zu ihm empor. Die im Sommer hohen und saftig grünen Schilfbestände waren zu niedrigen, fahlgelben Stängel- und Blätterbündeln zusammengetrocknet. Schwarz und versunken war das Gewirr der abgestorbenen Laichkrautblätter im Uferwasser zu erkennen. Für die einzigen hellen Farbtupfer in diesem Gemisch dunkler, winterlicher Farben sorgten einige hellgelb leuchtenden Weidenblätter, die vereinzelt auf der stillen Wasseroberfläche schwammen. Farblich ein wenig bereichert wurde diese Szenerie bald durch einen freundlich wirkenden roten Punkt, der zu der Pose meiner mit einem Zwiebackteigkügelchen beköderten Friedfischangel gehörte. Zwar ging es mir an diesem Tag gar nicht in erster Linie um die Angelei sondern mehr um die Ruhe am Wasser, aber wenn dabei vielleicht das eine oder andere Köderfischchen für die geplante große Fischwaid in der kommenden Woche beißen wollte, so war mir das natürlich auch nicht unrecht. Für diesen Fall hatte ich vorsorglich einen Köderfischkessel mit batteriebetriebener Sauerstoffpumpe mitgebracht. Vorerst benötigte ich ihn aber noch nicht. Mein kleiner Schwimmer stand unbeweglich im Wasser.


Es war noch früh am Nachmittag und nicht besonders kalt. In Gedanken war ich schon der Zeit voraus und stellte mir vor, wie es mir wohl in der kommenden Woche, in der ich an allen Tagen von morgens bis abends dem Hecht nachstellen wollte, ergehen würde. Würde es mir dieses Mal endlich gelingen, den großen Triumph zu erzielen, oder würde ich mir nur neue Frustration und kalte Füße einholen?!

Unvermittelt wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, denn plötzlich geriet die rote Posenspitze, die ich auch während meines Sinnierens natürlich nicht aus den Augen gelassen hatte, leicht in Bewegung. Ich nahm die Rute zur Hand und setzte dem leicht weiter wandernden Schwimmer einen sehr sanften Anhieb entgegen. Kurz darauf zappelte ein knapp handlanger Gründling am Haken durch die Luft. Der erste Fisch des neuen Jahres und dazu ein sehr willkommener Hechtköder! Schnell war er vom Häkchen befreit. Der Köderfischkessel nahm ihn auf. Zu Hause wollte ich ihn bis Montag in der großen Wassertonne aufheben.
In der Hoffnung, noch einen zweiten dieser Art zu fangen, warf ich erneut aus. Es blieb jedoch in der Folgezeit alles still. Kein weiterer Interessent fand sich mehr für meinen Zwiebackköder.

Inzwischen war es kälter geworden und mich fror. Ich lief zum Wagen hinauf in der Absicht, die daheim schon fertig montierte Spinnrute zu holen und mir durch ein paar Blinkerwürfe Bewegung und damit etwas Wärme zu verschaffen. Es war eine kleine Vollglasrute, die man eigentlich zum Fischen vom Boot aus benutzt und zu der ich auf kuriose Weise gekommen war.

Bei einem meiner ersten Angelversuche an jenem schon erwähnten „Forellensee“ hatte ich beim Einholen meiner tief eingestellten Angelplötzlich fremde Schnur gehakt, die, als ich sie mit der Hand weiter herauszog, erkennen ließ, dass an ihrem Ende Gewicht hing. In Gedanken an einen abgerissenen und dann verluderten Fisch zog ich weiter,  bis zu meinem großen Erstaunen auf einmal, von bräunlichen Algen gänzlich überzogen, die Spitze eben dieser Rute aus dem Wasser auftauchte. Die Schnur lief noch durch die Ringe auf ein  inzwischen völlig verrostetes Röllchen der billigsten Art. Ich wusste damals nicht, ob da einmal ein besserer Fisch  einem unachtsamen Angler sein Gerät in den See entführt oder ob jener selbst aus irgendeiner Wut oder Enttäuschung heraus sein Geschirr in die Fluten geworfen hatte. Wie dem auch sei, ich gab meine seltsame „Beute“ beim Gewässerwart ab, damit der rechtmäßige Besitzer wieder zu seinem Eigentum gelangen könnte. Als aber trotz manchen Herumfragens und wochenlanger Wartezeit niemand Anspruch auf die Rute anmeldete, bekam ich sie geschenkt. Die Rolle, die ehedem schon nicht viel getaugt hatte, war durch den langen Aufenthalt im Wasser vollends unbrauchbar geworden. Die Schnur war ebenfalls verrottet, aber die Rute selbst entpuppte sich nach gründlicher Reinigung als stabil und gut brauchbar. An ihr also hatte ich eine solide Stationärrolle mit neuer 45 er Schnur befestigt, deren Ende ich mittels eines Wirbels durch ein tragfähiges  Stahlvorfach verlängert hatte. Als Blinker war ein 16g schwerer und 5,5 cm langer FZ-Löffel gewählt worden. Derartig ausgerüstet stand ich nun auf dem Steg und begann, mich mit kurzen und langen Würfen ein wenig aufzuwärmen.

Silbern blinkend zog der Löffel - hin und her schießend, dann wieder abtaumelnd und torkelnd -seine Bahnen durch das dunkle Wasser. Immer wieder fasste der Drilling dabei abgestorbenes, schwarzes Laichkraut, bis es mir langsam zu viel damit wurde und mein Blut nicht nur durch die Bewegung sondern auch aus Ärger und Unwillen über das viele „Gemüse“ in Wallung geriet. Etwas missmutig dachte ich daran, für heute Schluss zu machen, hatte ich doch eine volle Angelwoche noch vor mir. Da es aber immer noch recht früh am Nachmittag war, beschloss ich, doch noch einige Würfe auf der anderen Teichseite unterhalb der Böschung auszuführen, die von den beiden Ruhebänken gekrönt wird. Als ich schon dorthin unterwegs war, kam mir der Gedanke, ob es nicht richtiger wäre, neben der Angel auch den Klappkescher mitzunehmen, da man beim Blinkern ja nie wissen könne. Aus Bequemlichkeit wollte ich diesen Gedanken  zuerst gleich wieder verwerfen, zwang mich aber dann doch zur Konsequenz und nahm das Landegerät mit. Als ich drüben behutsam die rutschige Uferböschung hinab geturnt war, klappte ich es am Wasser auch brav auf , bevor ich meine  mit wenig Hoffnung auf irgendeinen Erfolg begleiteten Würfe fortsetzte.


Ich hatte hier den längeren, spitz zulaufenden Teil unseres leicht dreieckig geformten Teiches vor mir. Daher waren Würfe in größere Entfernung möglich. Ich warf zunächst auf die größtmögliche Länge hinaus, aber auch hier waren mir bei geringster Unachtsamkeit in der Köderführung ständig wieder die leidigen Krauthänger beschert. Immer und immer wieder mit kalten Fingern nasses, schwarzes Kraut vom Haken entfernen zu müssen, nahm mir recht bald die restliche Lust an der Sache. Nur noch einen Fächer wollte ich werfen, um dann endgültig nach Hause und in die Wärme zu fahren. Für heute sollte es damit genug sein!

Beim vierten oder fünften Wurfversuch war es wieder soweit, dass sich ein ziemlich dickes Krautbüschel um Drilling und Blinker schlang. Nun war ich völlig verärgert und kurbelte meinen so behangenen Kunstköder lustlos heran, um jetzt aber wirklich endgültig diese fruchtlose Art der Angelei auf der Stelle abzubrechen. Als das schwarze Bündel, in dem nur spärlich das silberne Blinken meines FZ‘s zu erkennen war, etwa noch eine Armlänge entfernt von mir im Wasser war und ich es darauf gerade mit leichtem Schwung heraushob, geschah es: mit zwei, drei mächtigen Schlägen, die das Wasser hoch aufgischten ließen, schoss der Hecht darauf zu, verhielt unverrichteter Dinge einen kurzen Moment direkt vor meinen Füßen, wand sich dann wieder um und verschwand zurück in die Tiefe, aus der er so unverhofft gekommen war.

Ich stand wie erstarrt. Das Herz klopfte mir vor Schreck bis hoch zum Hals. Die Rute hielt ich noch immer fest umklammert. Fassungslos starrte ich abwechselnd von dem ebenfalls noch immer in der Luft baumelnden, so reichlich garnierten Blinker hin zu der Stelle, an der der kraftvolle, gefleckte Fischleib auf ihn zugefahren und dann wie ein Spuk wieder verschwunden war. Nur langsam begannen meine Gedanken sich zu ordnen. Ja, gab es denn das überhaupt, dass sich ein Unterwasserräuber für einen vom Kraut förmlich eingewickelten Löffel interessierte?! Hatte nicht überall in den Fachbüchern gestanden, dass selbst ein einzelner Grashalm die schlauen Gesellen warnen und vom Beißen abhalten würde?! Und dieser hier, „mein“ Hecht, hatte trotz allem anbeißen wollen, an meiner Angel, wenn ich ihm nur Zeit und Gelegenheit dazu gelassen hätte! Ich konnte es einfach nicht fassen! So ein Glück und Pech zugleich! Wer von den anderen Anglern würde mir das glauben?! „Anglerlatein!“ würde ihr nachsichtig lächelnder Kommentar sein.


Zu diesem Zeitpunkt - es waren nur wenige Augenblicke seit dem für mich so Unfassbaren vergangen - fiel die Erstarrung von mir ab. Mit fieberhafter Eile riss ich die Krautfetzen vom Blinker und ließ ihn nach einem mäßig weiten Wurf noch einmal in die mittlerweile wieder glatt gewordene Wasserfläche eintauchen. Vielleicht war ja noch nichts verloren! Vielleicht zeigte Esox erneut Interesse für mein Eisen! Wenn er so wild selbst auf einen krautbepackten Blinker losfuhr, musste sein Hunger gewaltig sein! Gesehen haben, konnte er mich trotz der kurzen Distanz wohl kaum, denn die hereinbrechende Dämmerung hatte mich vor dem dunklen Böschungshintergrund ziemlich unsichtbar gemacht. Ich führte den Löffel knapp unter der Oberfläche, so dass ich seine langsam wirbelnden Bewegungen genau verfolgen konnte. Als mich noch zwei, drei Meter von ihm trennten, sah ich, wie sich ein gelblich-grau gefleckter  Hintergrund, vom Gewässergrund kommend, im Bogen an ihm vorbeischob: der Hecht! Wieder war er den Köder angegangen, hatte ihn dabei aber offensichtlich verfehlt. Er wollte es also tatsächlich heute wissen! - So langsam wie möglich drehte ich die Rollenkurbel weiter, um ihm die Möglichkeit eines weiteren Nachstoßens zu geben, zu dem es jedoch nicht kam. Dennoch war ich mir jetzt meiner Sache ziemlich sicher, dass der Hecht mir heute noch an den Haken gehen wollte. - Schnell die Rute zum Ausholen für den nächsten Wurf nach hinten geführt - da zeigte mir ein Blick auf die Rolle, dass die in der Kälte spröde gewordene 45 er Schnur in zwei größeren Schlaufen von ihr abstand. Auch das noch! Hastig zog ich die Widerspenstige bis zu den Stellen auf der Rolle ab, wo die lockeren Klänge sich befanden, und spulte sie im Eiltempo, mit der linken Hand für die nötige Straffung sorgend, wieder auf. Nur ja jetzt keinen Schnurbruch bei einem möglichen Biss durch das Verklemmen oder Verheddern der Leine riskieren! Während meiner fieberhaft eiligen Tätigkeit stiegen unzählige stumme Gebete des Inhalts zum Himmel auf, dass der Hecht doch in der Nähe bleiben und seine Beißlust nicht verlieren möge. Zumindest eines von ihnen muss wohl erhört worden sein, denn als ich den Blinker mit leichtem Unterschwung an die gleiche Stelle wie vorher ausgeworfen und ihn mit wenigen Kurbelumdrehungen bis an den Punkt herangebracht hatte, an dem der Hecht meinem Empfinden nach eigentlich beißen müsste, tauchte dort - wie selbstverständlich - ein großer, flacher, blau-schwarz glänzender Schädel auf und schnappte, einen kräftigen Ruck in Rute und Schnur dabei verursachend,  den langsam geführten Löffel dicht unter der Wasseroberfläche weg. Sofort und diesmal ohne große Panik und Überraschung, weil ich ja förmlich auf derartiges gewartet hatte, schlug ich kräftig ein-, zweimal an.


Der Blinker saß, wie ich deutlich sehen konnte, im linken Unterkiefer, und der Hecht, der immer noch an derselben Stelle verharrte, schüttelte darauf unwillig seinen breiten Kopf, wohl um das lästige Eisen loszuwerden. Erst, als es ihm nicht gelang, zog er an mir vorbei nach rechts ins tiefere Wasser, wobei er meine ziemlich stramm eingestellte Rollenbremse zu ihrem bisher schönsten Singen brachte.

Eine starke Welle innerer Erregung überrollte mich. Tausend Gedanken und Ängste schossen mir durch den Kopf. Was würde jetzt passieren? Würde die Schnur und vor allem die Rute, die mir so, wie ich sie jetzt vom starken Zug gekrümmt in den Händen hielt, plötzlich lächerlich klein vorkam, halten?! Würde es meinem Gegner gelingen, den Haken doch noch loszuwerden?! Was alles würde er mit mir anstellen?! Was hatte ich nicht alles über über das Verhalten von großen Hechten im Drill gelesen: dass sie springen, sich schütteln, versuchen, die Schnur zu sprengen oder sie rettungslos in den Wurzelstöcken und versunkenen Ästen ihrer Unterwasserburgen zu verstricken, und vieles mehr. Welche List würde er anwenden?! - Mein Esox tat glücklicherweise von alledem zunächst nichts. Er zog nur ständig in der freien Gewässermitte etwa zehn Meter von mir und dem Ufer entfernt hin und her. Er machte dabei auf mich den Eindruck, als sei er sich der Gefahr, in der er schwebte, überhaupt nicht bewusst, als wisse er nur nicht so recht, was er von dem ihm unbekannten stetigen Zug am Rande seiner Maulspalte zu halten habe. Wie und von wem sollte auch ihm, der nun fast ein Jahrzehnt lang uneingeschränkter Herrscher seines Wasserreviers gewesen war, ihm, der selbst keine Furcht kannte, wohl aber Angst und Schrecken unter seinen Mitwasserbewohnern zu verbreiten wusste, irgendein Unheil zustoßen?!


Was auch immer es war, das den großen Fisch dazu bewog, sich relativ ruhig zu verhalten, es gab mir selbst Zeit und Gelegenheit, wieder mehr innere und äussere Ruhe zu finden. Zunächst registrierte ich mit aufatmender Zufriedenheit, dass mein Gerät stark genug war und hielt. Die kurze, steife Rute war zwar zu einem ständigen Halbkreis gebogen, machte aber einen soliden und noch weiter zu beanspruchenden Eindruck. Die Schnur lief gleichmäßig glatt und vertrauenserweckend durch die Ringe. Das alles gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Leichtfertig wollte ich dieses Mal nichts mehr aufs Spiel setzen. Deshalb stellte ich die Sternbremse der Rolle noch ein wenig weicher ein, um bei einer eventuellen, überraschenden Flucht meines Gegenübers nicht Gefahr zu laufen, durch einen plötzlichen, scharfen Ruck einen Schnurabriss in Kauf nehmen zu müssen. So vorbereitet, begann ich nun zu versuchen, dem immer noch im Freiwasser ruhig seine Bahn ziehenden Hecht allmählich meinen Willen aufzuzwingen und die Regie des weiteren Drills selbst zu bestimmen. Meinem ersten behutsam aber doch entschlossen ausgeführten Zug  in Richtung Ufer begegnete er mit erstaunlichem Stillhalten. Schwer ließ er sich ein gutes Stück weit heran kurbeln. Aber dann, etwa drei Meter vor dem Trockenen, übernahm er selbst wieder das Kommando und schoss nach links dem Ufer entlang auf den Holzsteg zu. Dahin jedoch wollte und durfte ich ihn nicht gelangen lassen, weil  ich neben dem vielen Laichkraut dort noch andere Hindernisse vermutete. Also zog ich die Bremse schnell wieder etwas fester an und forcierte den Drill. Auf meinen starken, unerbittlichen Zug hin machte der Hecht kehrt und strebte nun nach rechts zur anderen Seite auf die ins Wasser hängenden Weidenäste zu. Hier konnte ich ihn aber noch weniger gebrauchen und wiederholte daher das Wendemanöver. Dabei kam er zum ersten Mal während des Drills für kurze Zeit an die Oberfläche. Was für ein Fisch! Den durfte ich auf keinen Fall mehr verlieren! Ich wusste nicht, wie lange unser Zweikampf schon dauerte. Jedes Zeitgefühl war mir abhanden gekommen. Der Hecht blieb jetzt in Ufernähe. Seine Fluchten wurden kürzer. Ich hatte ihn jetzt recht gut an der Kandare. Allmählich begann ich, mir Gedanken über seine Landung zu machen. Als ich dabei auf den am Boden neben mir liegenden Unterfangkescher blickte, den ich erst gar nicht hatte mitnehmen wollen und es dann doch glücklicherweise getan hatte, durchfuhr mich ein neuer Schreck! Wie sollte ich den großen Fisch da hinein bringen?! Er erschien mir gar zu zierlich. Hilfesuchend schaute ich mich um, aber keiner der Rentner, die sonst immer, wenn ich nichts fing, wohlwollend schmunzelnd auf ihren Bänken saßen, war zu entdecken. Ich musste allein mit meinem Hecht zu Rande kommen. Dieser ließ sich, nun doch schon etwas erschöpft, ruhig in Ufernähe halten. Ich nahm den kleinen Kescher in die Linke und zog Freund Esox mit der Rechten vorsichtig ins Flachwasser, was er auch stillhaltend mit sich geschehen ließ.

Schulmäßig wollte ich den sich nun kaum noch Wehrenden von hinten keschern, aber er lag jetzt so fest auf Grund, dass ich den Kescher nicht unter ihn bringen konnte. Außerdem hätten sowieso nur Schwanz und das letzte Körperdrittel in ihn hineingepasst. Ich versuchte es trotzdem. Da weckte mein Herumwerken mit dem Netz noch einmal Widerstandskräfte in ihm. Von der schlagenden Schwanzflosse angetrieben, schlängelte er sich durch das seichte Wasser, überwand sogar ein Stückchen braunen Grases auf einer kleinen Landzunge, auf deren Rückseite er wieder tieferes Nass erreichte und matt davon zu schwimmen versuchte. Natürlich ließ ich das bei straff gehaltener Schnur nicht zu und überstand mit etwas Glück diese heikle Situation. Wieder zog ich ihn heran, beließ ihn aber diesmal im etwas tieferen Wasser und versuchte mein Kescherglück nun einmal mit der rechten Hand und von vorne. Glücklich brachte ich auch seinen Kopf bis weit über die Brustflossen hinein. Dann war wieder Ende. Ratlos darüber, was ich tun sollte, verhielt ich so einen Augenblick, als Esox mir ganz plötzlich mit einem großen, entscheidenden Gefallen entgegenkam. Er blähte nämlich auf einmal seine Kiemendeckel weit auf. so dass die roten Reusenbögen  deutlich sichtbar wurden, riss das furchterregende Maul auf und schüttelte seinen Schädel derart hin und her, dass er sich mit Kiemendeckeln, Zähnen, Kiefern und dem daran haftenden Blinker restlos in den Keschermaschen verfing. Nun hatte ich ihn außer an der Angel auch im Kescher noch einmal fest. Schnell schlang ich, den Kescher am Stielende drehend, das restliche lose Netzwerk ebenfalls um seinen Kopf, klemmte beides, Rute und Kescherstiel, unter den linken Arm und suchte, den Fisch so langsam aus seinem Element ziehend, ihn durch Erreichen der Böschungskrone endgültig von diesem zu trennen.

Es war kein leichtes Unternehmen auf dieser klitschigen Böschungsrutschbahn. Nach den ersten zügigen Schritten die Steile hinan drehte ich mich um und gewahrte das seltsame Bild, das sich mir da bot: der mächtige goldgelb schimmernde, hellgefleckte Fischleib mit der großen gemusterten Schwanzflosse spannte sich zu einem muskulösen Bogen, während sein oberster Teil fast völlig von den Strängen des Netzes verhüllt war. - “Wenn er jetzt anfängt zu schlagen“, dachte ich, „liegen wir beide im Wasser!“. Es ging aber alles gut. Nur einmal rutschte ich kurz zurück, fing mich aber gleich wieder, und auch der Große in meinem Schlepptau verhielt sich wider Erwarten vollkommen ruhig bei diesem Angelakrobatenstück, das ich da vollführte.


Als ich die Höhe erreicht hatte, stieg in mir das heiße Triumphgefühl auf, dass „mein“ Hecht jetzt auch sicher mir gehörte, mir ganz allein! Ich fühlte ein unbeschreibliches Glücksgefühl und hatte große Lust, meinen Jubel laut heraus zu schreien, was ich sicher auch tat. Trotzdem hielt ich im Lauf nicht an, sondern schleifte meinen Besiegten durch das feuchte Gras, bis er mit flappenden Kiemendeckeln hinter einem Jägerzaun lag, der es ihm mit Sicherheit verwehrte, sein angestammtes Wasserrevier jemals wieder zu erreichen. Mit zitternden Händen befreite ich seinen Kopf von dem ihn umgebenden Netzgewirr, dabei sorgfältig und auch ein wenig ängstlich darauf achtend, den spitzen Zähnen seines klaffenden Mauls zu entgehen. Dennoch mussten auch hier Maschen gelöst werden, so dass trotzdem noch Anglerblut zu fließen begann. Aber, wer hätte das nicht gerne für solch einen Fang in Kauf genommen?! Jetzt sah ich auch, dass der Drilling mit zwei Haken fest um den Unterkieferknochen gefasst hatte -ein bombensicherer Sitz!

Nun lag Esox in seiner ganzen Schönheit vor mir. Ich kauerte davor und konnte mich einfach nicht satt sehen an seinen lang gestreckten, leicht bebenden Flanken, die golden schimmerten und eine Unzahl von hellen Flecken und Bändern aufwiesen. Rot mit fast schwarzen Tupfen und Streifen leuchteten die kräftigen Flossen. Die Rückenpartie zeigte eine ins Olivgrün gehende Färbung, die sich auf der Oberseite des langen Schädels in ein tiefdunkles Blauschwarz hineinsteigerte, während die Bauchrundung in einem gelblichen Weiß erstrahlte. Beeindruckend der starre Blick aus goldumrandeter Iris, furchteinflößend der zähnestarrende, leicht geöffnete große Rachen!

Voller Begeisterung hielt es mich nicht mehr ruhig auf den Beinen. Ich musste plötzlich tanzen und singen, und es ist wohl gut, dass niemand Zeuge meines aufgeführten Indianertanzes samt dazugehörigem Kriegsgeheul geworden ist. Er hätte sonst sicher gewisse Zweifel an meinem Geisteszustand bekommen. Als ich mich einigermaßen ausgetobt hatte, wußte ich, dass es längst an der Zeit war, nun auch die letzte, notwendige Arbeit zu tun. Ich erledigte diesen traurigsten Teil des Abenteuers mit zitternden, ungeschickten Händen. Ehrfurcht vor dieser herrlichen Kreatur und ein wenig Wehmut um ihr Ende, das ja nun ganz allein in meiner Hand lag, erfüllten mich. Trotzdem hätte ich mich damals um keinen Preis der Welt wieder von diesem Fisch trennen und ihn zurücksetzen können. Aus einem Nachbargarten stibitzte ich mir einen alten Plastiksack, in den ich meine prachtvolle Beute hineingleiten ließ. Als ich ihn gerade in den Kofferraum meines Wagens hob, kam um die Wegbiegung einer unserer Rentner und Gartenbesitzer. Er war der Erste, dem ich voller Stolz meinen einmaligen Fang zeigte und der mir, selbst erstaunt über dessen Ausmaße, herzlich gratulierte.

Nun aber hielt mich nichtsmehr am Teich. Ich musste nach hause, um allen zu zeigen und zu erzählen, was sich ereignet hatte! In aller Eile packte ich mein Gerät zusammen, die brave kleine Angel, die sich so bravurös bewährt hatte, den stark mitgenommenen und am Stielende zu einem überdimensionalen Korkenzieher zusammengedrehte Kescher sowie den Rest.  - Da sah ich auf dem Steg meinen Köderfischkessel stehen. In ihm schwamm noch immer der kleine Gründling, mit dem ich so Schlimmes im Schilde geführt hatte. Mit Freuden gab ich ihm seine Freiheit wieder, in eine Heimat hinein, in der er nun mit einer Angst weniger sein weiteres Dasein fristen konnte.


„Das darf doch nicht wahr sein!“ - war der erste Kommentar meiner besseren Ehehälfte, an den sich sofort jedoch die Frage anschloss: “Was machst du denn mit dem?“ Der etwas bange Unterton dabei in ihrer Stimme kam daher, dass sie sich als tüchtige ans Essen Hausfrau sofort vorstellte, sie müsse dieses, für sie als Ungetüm geltende, Wesen in irgendeiner Form kulinarisch zubereiten, was sie sich wohl nicht so recht zutraute. In ihrer ansonsten hervorragenden Küche steht sie nämlich mit Fisch ein wenig auf dem Kriegsfuß. - Indes, ans Essen dieses herrlichen Fisches dachte ich zu diesem Zeitpunkt am wenigsten. dennoch war ihre Frage eigentlich berechtigt. Was machte ich jetzt eigentlich weiter mit „dem“? - Nun, zuerst einmal messen und wiegen natürlich! Endlich wollte ich doch auch in Zahlen wissen, was ich da erbeutet hatte. In meiner Aufregung fand sich zunächst kein Metermaß. Außerdem wuchs in mir ständig der Drang, die Geschichte vom besiegten Hecht weiterzuverbreiten, so dass ich zum Telefon eilte. Dieses stand dann etwa eine Viertelstunde lang nicht still, bis jeder Mitkonkurrent und natürlich auch der Gewässerbesitzer davon unterrichtet war, dass die Jagd zu Ende und Esox gefangen sei. Unglücklicherweise befand sich einer der Informierten gerade bei seinem freitagabendlichen Stammtisch im Gasthaus in der Nähe. Im Nu war unser Hof von Neugierigen überschwemmt. Alles schaute überwältigt und zum teil auch ein bisschen neidisch auf den am Boden liegenden Hecht. Inzwischen hatte sich auch ein Zollstock gefunden, und es wurde wieder und wieder gemessen. Doch das zuerst ermittelte Ergebnis änderte sich nicht: Esox maß genau 101 cm. - Neugierig auf sein Gewicht, brachten wir ihn zur benachbarten Raiffeisen-Genossenschaft, die über eine Dezimalwaage verfügte. Sie stellte unter den kritischen Blicken vieler Zeugenaugenpaare das exakte Gewicht des Erbeuteten fest: 8.800 g! Also 17 Pfund und 300 Gramm! Mit Triumph wurde der so Vermessene und Gewogene anschließend in meinen Angelkeller geleitet und dort auf dem Tisch aufgebahrt. Das Fotografieren konnte beginnen!

Ich weiß heute nicht mehr, wie viele Besucher
an diesem Abend einander die den Griff der schweren Kellertür in die Hand gegeben, auch nicht mehr. wie oft wir den zur Strecke gebrachten Räuber gebührend „tot getrunken“ haben. Als schließlich der letzte Bewunderer gegangen war, machte ich mich endlich ans Ausweiden des Fisches. Dabei stellte ich fest, dass es ich um einen Rogener mit bereits kräftig entwickelten Rogensträngen handelte. Zur Erklärung muss ich anfügen, dass wir ihm gegenüber jegliche Schonbestimmungen aufgehoben hatten, da er ein sicherer Einzelgänger und dazu bei seiner Größe ein viel zu gefräßiger und im Hinblick auf den sonstigen Besatz in unserem Privatgewässer ein viel zu kostspieliger Teichgenosse war.

Enttäuschend für mich verlief die Untersuchung seines Magen- und Darminhaltes. Nachdem sein Erscheinen auch die Frage gelöst hatte, wohin seinerzeit die Küken unserer Teichhühner verschwunden waren, war ich natürlich gespannt darauf, welche Wasserbewohner - in welch angedautem Zustand auch immer - sich in seinem Innern befinden würde. Allein, der lange, rosarote Darmkanal war - auch gegen das Licht betrachtet -  klinisch sauber. Kein Wunder, dass Esox hungrig gewesen war.

Ein letztes Mal für diesen Abend glitt mein Blick liebevoll langsam über die gefleckte Gestalt des Besiegten. Dann wurde er verpackt. Eine bisher unbenutzte, aber freundlich bereitgestellte, leere Kühltruhe nahm ihn - wegen seiner Länge mit etwas Mühe - auf.

In dieser Nacht habe ich zwar auch geschlafen, durchlebte aber in der Hauptsache ungezählte Male noch alle Phasen dieses denkwürdigen Angeltages.


Hecht III                                                        Angelgeschichten