Hecht

 

Diesem großen, gefräßigen Räuber unserer Seen, Flüsse und Teiche galt von Anfang an meine besondere Anglerliebe. Als ich zu Beginn des Jahres 1973 die Pfarrstelle in Offenthal übernahm, konnte ich natürlich noch nicht wissen, dass ich hier nur eineinhalb Jahre später meinen bisher größten Angelerfolg feiern sollte. Innerhalb unserer Gemarkung befand sich ein kleines Gewässer:„unser Teich“, in den vor etwa acht Jahren neben Friedfischen verschiedener Art auch zwei halbwüchsige Hechtlein eingesetzt worden waren. Einer davon, so wurde mir glaubhaft berichtet, war kurz nach dem Einsetzen verendet aufgefunden worden. Den anderen hatte man lange Jahre nicht mehr gesehen, wodurch das Gerücht aufkam, ein großer Hecht triebe „oben im Teich“ sein Unwesen. Vermutungen wurden angestellt, zu welcher Größe und welchem Umfang er wohl abgewachsen wäre. Für alle Eingweihten galt er fortan als der „große Unbekannte“. Freilich war seine Existenz nicht ganz unbestritten, denn wer hätte schon dafür garantieren können, dass er nicht auch wie sein Gefährte verendet aber zum Grund abgesunken war, oder dass irgendein Schwarzangler ihn in der Zwischenzeit dem Wasser entrissen hatte. Alle Angelversuche auf den Geheimnisvollen zeitigten jedenfalls keinen Erfolg. Meine Zweifel an dem tatsächlichen Vorhandensein „des Hechtes“ waren von daher also nicht ganz unbegründet. Dennoch hegte ich natürlich große Hoffnung auf das Vorkommen eines guten bis starken Hechtes so in der Nähe meines neuen Domizils. Auch meine Überlegungen begannen um die Frage zu kreisen, welche Größe und welches Gewicht er wohl aufzuweisen hätte.

Um alle diese Unklarheiten zu beseitigen, und zwar endgültig, startete ich - vom Gewässerbesitzer längst dazu eingeladen - meine ersten Angelversuche auf den unbekannten esox lucius. Viel Ahnung hatte ich - wie ich heute gerne zugebe - von der Hechtangelei damals noch nicht. Ich wusste, dass man möglichst einen Drillingshaken brauchte, an dem irgendwie ein Köderfisch befestigt werden musste. Das alles sollte von einem Stahlvorfach gehalten werden, um zu verhindern, dass der darauf beißende Hecht die Schnur mit seinen Zähnen durchscheuerte. Das entsprechende Gerät wurde mir in verwandtschaftlicher Verbundenheit von meinem Schwager geliehen.

In den folgenden Monaten zogen während mancher Angelstunden daran geköderte Kleinfische ihre Bahnen ins Ungewisse. Nichts geschah, außer dass zahlreiche Köderfische sich durch unendliche Kreisbewegungen ermüdeten, beim Auswerfen abrissen oder sich im Geäst der überhängenden Bäume und Büsche verhakten. Von Misserfolg zu Misserfolg verstärkte sich in mir die Annahme, dass der so oft Heimgesuchte  in Wirklichkeit schon gar nicht mehr in diesem Gewässer ansässig, sondern entweder bereits in die ewigen Fischgründe eingegangen oder klammheimlich von einem „stillen Teilhaber“ gefangen worden sei. Allein die Tatsache, dass sich außer mir noch mindestens ein Dutzend einheimischer wie auswärtiger Angler mit den ausgefallensten Ködern und Methoden weiterhin verbissen um den vermuteten Esox bemühten, ließ auch mich meine reichlich ungeschickten Versuche fortsetzen.

Eines Nachmittags  - es war Hochsommer geworden - stand ich mit meiner Karpfenrute unterhalb der Uferböschung neben einem Kalmusbestand dicht am Wasser, als ich rechts von mir hinter den Wasserpflanzen erhebliche Wellenbewegung in direkter Ufernähe wahrnahm. Um diese Tageszeit konnte sie wohl kaum von einer der zahlreichen Wasserratten hervorgerufen worden sein, die in der Böschung zwar ihre Baue hatten, aber meist erst nach Sonnenuntergang aktiv zu werden pflegten. Sollte da vielleicht einer der großen Karpfen am Werk sein, die - wie mir versichert war - in unserem Teich herum schwammen und so schwer zu fangen waren? Beherzt griff ich meinen Unterfangkescher, um jenseits der Kalmusstängel nach dem Rechten zu sehen. Ich verhielt jedoch in meiner Bewegung nach rechts, als ich direkt vor meinen Füßen im Wasser eine gleitende Bewegung gewahrte. Was ich, nachdem meine Augen sich an Lichtbrechung und -reflexion gewöhnt hatten, dort im flachen Uferwasser sah, ließ gleichermaßen meinen Atem stocken und mein Blut in den Adern gefrieren: vor mir standen - nicht mehr als einen guten Meter entfernt - die vorderen Zweidrittel eines Hechtbalkens von unglaublicher Größe, dessen Rest Kalmusstängel und - wurzeln verdeckten. Atemlos vor Spannung, den Kescher noch immer umklammernd, stand ich da. - Also doch! Der Hecht war noch da! Und wie groß war er!

Mit dem Gefühl:“Alles oder nichts!“, das mich plötzlich überkam, stieß ich den Kescher mit einer plötzlichen Bewegung vor das Hechtmaul ins Wasser, in der Hoffnung, vielleicht den so Überraschten zu einem unkontrollierten Schuss in das bereit gehaltene Netz zu verleiten. Alles, was ich dabei erntete, war ein mächtiger Schlag mit der Schwanzflosse, der meinem Gegenüber die Freiheit und mir ein unfreiwilliges Duschbad  bescherte. Beeindruckt  von der Größe, Kraft und Majestät dieses Gewaltigen erklomm ich nassgespritzt, den Kescher geschlagen hinter mir herziehend die Uferböschung. Dort setzte ich mich zunächst einmal  zur Erholung auf eine der da für Spaziergänger aufgestellten Ruhebänke und versuchte, den Eindruck zu verarbeiten, den dieser mächtige Fisch auf mich gemacht hatte. - Gab es so etwas wirklich? So große Fische in unseren oft so kleinen Gewässern?! Ich konnte kaum glauben, was ich doch mit eigenen Augen gesehen hatte. Mühsam erhob ich mich von meinem Ruheplatz mit dem Gedanken, nun zum ersten Mal den sicheren Beweis dafür zu haben, dass „der Hecht“ wirklich da war - kein Fabeltier, das nur in den Wunschträumen der Angler und in den Köpfen der Stammtischleute herumgeisterte! Ich hatte ihn selbst gesehen, ja mehr noch, ich war ja noch nass am ganzen Körper von seiner gewaltigen Schussfahrt in die rettende Tiefe!

Während ich noch so sinnierend dastand und auf das bräunliche Wasser der kleinen Bucht vor mir starrte, sah ich ihn zum zweiten Mal. Ganz ruhig, als sei er sich seiner Stärke und Majestät voll bewusst, zog das große gefleckte Tier einen gemächlichen Kreis unter der Wasseroberfläche, so, als wollte es mir gegenüber zum Ausdruck bringen: Was willst du tölpelhafter Mensch denn mir,dem König des Gewässers, schon anhaben wollen?! - Ehrfurchtsvoll trat ich dann auch darauf, nachdem er seinen Kreis beendet und sich meinen Blicken wieder entzogen hatte, den Rückzug an, immer noch von der Größe und Schönheit dieses Tieres fasziniert. Während ich mit klopfendem Herzen und dankbar für das, was ich gesehen hatte, mein Angelgerät zusammenpackte, kam mir nicht im entferntesten der Gedanke, diesen ja wohl auf der Jagd sich befindenden Hecht mittels eines Blinkers oder Wobblers in meine Gewalt bringen zu wollen. ich war einfach zu überwältigt von dem großartigen Schauspiel, das sich mir dargeboten hatte, als dass ich hätte Bedauern darüber empfinden können, das ich da  eine gewiss gute Chance vertan hatte. Allerdings war die nächste, mit Träumen von einem nervenzerfetzenden Hechtdrill verbrachte Nacht noch nicht ganz vorüber, als ich bereits Pläne schmiedete, den Kapitalen zu überlisten.

Zu jener Zeit war ich im leihweisen Besitz einer enorm starken Vollglasrute, deren Aktion der eines mittleren Besenstiels kaum nachstand. Auf ihrer Rolle befand sich eine steife 50er Schnur, mit der ihr eigentlicher Besitzer, mein Schwager, wohl vorgehabt hatte, auf der Nord- oder Ostsee Dorsche zu pilkern. Diese robuste Zusammenstellung schien mir damals gerade das Richtige für einen großen Hecht zu sein. Von nicht allzu großer Sachkenntnis getrübt zog ich einen großen roten Hechtkorken auf die widerspenstige Schnur, schlaufte ein derbes Stahlvorfach in den robusten Karabinerwirbel ein und befestigte daran einen kräftigen Drillingshaken. So gerüstet zog ich zum Teich und warf daran gehakt meine jeweiligen Käderfische aus. Dem Biss des Hechtes stand nichts mehr im Wege.  -  Allein, es tat sich wieder einmal nichts! Wieder vergingen erfolglose Wochen und Monate. Nicht einmal zu Gesicht bekam ich Freund Esox. Allmählich trat mein Erlebnis mit ihm ebenso in den Hintergrund meines Bewusstseins wie auch die Hoffnung, ihn jemals zu fangen.  

So war es auch an jenem herrlich warmen Sommermorgen, an dem ich eine etwa 25 cm lange Schleie beim Gründeln unter den Laichkrautblättern erwischt und, auf die beschriebene Art und Weise angeködert, dem mir nunmehr bekannten Stattlichen angeboten hatte. Nach all den vielen vergeblichen Versuchen rechnete ich gar nicht mehr im Ernst mit einem Biss dessen, der hier in diesem Gewässer König und deshalb auch gar nicht auf mein Nahrungsangebote angewiesen war.

Die Sonne stieg höher und wärmte mehr und mehr. Die Köderschleie suchte, was ich an der Bewegung des ihr nachfolgenden Schwimmers erkannte, den Schatten der Wasserpflanzen  in Ufernähe auf. Zu faul, sie von da wegzuholen und noch einmal auszuwerfen, zudem mit dem Gefühl, dass „er“ ja doch nicht beissen würde, verließ ich meinen Angelplatz und begab mich selbst ebenfalls in den Schatten einer großen Erle auf der anderen Seite des Teiches, wo ich dicht vor dem Ufer häufiges Aufsteigen von Blasen beobachtet hatte. Vielleicht waren hier Kapfen oder weitere Schleien zu fangen. Und richtig: noch keine 10 Minuten saß ich dort, als meine Karpfenpose nach einigen Zupplern schräg nach unten abzog und ich nach den entsprechenden Drillmanövern eine gute, etwa pfundschwere Schleie keschern konnte. Wahrscheinlich aber hatten ihre Fluchtversuche die umliegende Fischwelt derart gewarnt, dass  sich danach kein Flossenträger mehr für mein Köderangebot interessierte. In dem Maße, in dem es heißer wurde, wurde ich schläfriger. Ein mühsamer Blick zum anderen Ufer hinüber bestätigte, dass Hechtschwimmer und Köderfisch noch immer am gleichen Platz ruhten. Was sollte auch schon geschehen?! - Aber da, plötzlich, in die Stille des späten Vormittages hinein, hörte ich auf einmal das laute Knarren der Rolle an meiner Hechtrute, die ich zwischen die Bohlen einer der Ruhebänke geklemmt hatte. Schnur lief ab. Der rote Hechtkorken wurde vom Ufer weg in die Tiefe eines Gumpens in der Nähe einiger Weidenbüsche gezogen. Sofort war ich auf den Beinen und kämpfte mich durch das widerstrebende Gebüsch hindurch. „Der Hecht, der Hecht hat gebissen!“, dachte ich voller Aufregung, erreichte nach kurzem Lauf die sich noch immer behäbig nach vorn biegende, steife Rute, nahm sie auf , zog - ohne weiter nachzudenken - die  Rollenbremse  völlig zu und hieb mit aller Kraft an. Die Pose beschrieb daraufhin -  im leicht trüben Wasser deutlich zu sehen - einen Bogen quer zur Anhiebrichtung und entschwand dann endgültig meinen Blicken. Voller Erregung und ohne zu bedenken, dass auch ein großer Hecht eine 25 cm lange Schleie zuerst einmal schluckfähig ins bezahnte Maulnehmen muss, hieb ich erneut mit aller Macht an. Das Ergebnis dieses Kraftaktes war, dass mir mein Geschirr, wie vom Flitzebogen abgeschossen, leer entgegen kam. Betroffen blickte ich auf den leeren Drilling, und dann viel mir wieder alles ein: natürlich hatte ich gelesen, dass erfahrene Hechtangler nach dem Anbiss auf ihren Köderfisch mit dem Anschlagen lange warteten, dass Raucher unter ihnen zuerst einmal eine Zigarette rauchten,bevor sie dem Anhieb setzten. Aber all das hatte ich im Übereifer darüber, dass „der“, ach was, „mein“  Hecht gebissen hatte, total vergessen, Bedrückt erkannte ich zu spät meinen Fehler und meine zweite vertane Chance, den viel Umworbenen siegreich an den Haken zu bekommen.


Am Pfingstmontag des darauf  folgenden Jahres stand ich mit einem lieben Angelfreund wieder an der gleichen Uferstelle. Wir versuchten es mit Wurmködern auf  Friedfische und hatten schon ein paar Rotaugen und etliche kleine Schleien gefangen, dazu einen wirklich guten Karpfen verloren,  als plötzlich meine, mit einem Rotauge behakte und eigentlich nur routinemäßig ausgelegte Hechtpose direkt vor meinen Füßen hinter einem Schilfbüschel in den Fluten versank und nicht wieder hochkam. „Hecht!“- war alles, was ich denken konnte. „Aber jetzt nur nicht den Fehler vom letzten Jahr wiederholen! Nicht vorzeitig anschlagen! Zeit zum Schlucken lassen!“- Ich wartete. Der Schwimmer blieb verschwunden. Aber plötzlich kam er doch wieder hoch, legte sich flach auf die Wasseroberfläche und rührte sich nicht mehr. „Aha, schon geschluckt!“, dachte ich und hieb kräftig an. Jedoch außer Pose, Blei, Vorfach und Drilling, die durch die Luft sausten, kam auch dieses Mal nichts zum Vorschein. Abgedreht hatte Freund Esox den Köderfisch! Also wieder nichts! Würde ich ihn denn je fangen können, bevor ein anderer der vielen und bereits länger erprobten Mitangler ihn erwischen würde?! Diese Frage war in jenen Tagen mein ständiger Begleiter. Was alles probierten sie aus, um zum Erfolg zu kommen: raffinierte Wobbler und Spinner, die Maus im Sommer und den Goldfisch im Winter!

Aber all meine Sorge war unberechtigt. Auf keines der verlockenden Angebote fiel mein Starker herein. Ich registrierte es mit heimlicher Freude. Ich wollte ihn einfach für mich haben, musste ihn gewinnen. Er war „mein“ Hecht. Kein anderer Angler hatte ja auch soviel Zeit und Mühe auf ihn verwendet, wie ich. Er gehörte einfach mir!

Anfang Januar, wenn alle anderen die Ruhe der Feiertage und der Tage zwischen den Jahren genossen haben, - eine Zeit, die für mich immer mit besonderen Anstrengungen verbunden ist, -  mache ich stets ein paar Tage Urlaub, um dem Gefühl entgegen zu wirken, in puncto Ruhe und Erholung etwas versäumt zu haben. Für diese Zeit des Jahres 1975 hatte ich einen ernsthaften, hartnäckigen Angriff auf den Großen im Teich geplant. Ich wollte versuchen, in den ersten Urlaubstagen einen oder mehrere Köderfische zu fangen, um sie dem in dieser Jahreszeit mit Futterfischen wahrlich nicht verwöhnten Räuber appetitlich zu präsentieren. - Aber dann kam alles ganz anders.


Hecht II                                                                                Angelgeschichten